In der Affäre um Böhmermanns Schmähgedicht über den türkischen Präsidenten Erdogan ist eigentlich alles gesagt. Trotzdem äussere ich mich auch noch dazu. Weil das eigentliche Problem nicht eine verunglückte Satire oder ein irrlichternder Staatschef ist, sondern unsere selektive Wahrnehmung von Meinungsfreiheit. Im Original wie immer in der Sonntagszeitung.
Es ist alles gesagt. Schon längst. Auch geschrieben. Jeder hat sich dazu geäussert, von der deutschen Kanzlerin bis Dieter Hallervorden, vom CEO des grössten Verlagshauses bis zum Volontär, von Kreti bis Pleti. Einzig der Papst, der hat bisher geschwiegen. Was bei Franziskus nichts heisst. Kann also noch werden.
Nicht Böhmermann vs. Erdogan ist das Problem
Sie ahnen es, ich spreche von der „Staatsaffäre“ Böhmermann – und dessen Schmähgedicht auf den türkischen Präsidenten Erdogan. Und der Diskussion darüber, ob Satire alles darf oder nicht (wohl ersteres), ob Dummheit wirklich immer zu verteidigen ist (ich habe meine Zweifel), und ob Meinungsfreiheit in einem Rechtsstaat über allem steht (nein, sonst müssten wir in aller Konsequenz auch jeden islamischen Hassprediger goutieren).
Nur: Das eigentliche Problem ist nicht Böhmermann vs. Erdogan – es ist unsere höchst selektive Wahrnehmung von dem, was weltweit, tagtäglich und zunehmend häufiger stattfindet: die Gängelung, Einschüchterung, Bedrohung, Verfolgung von und Gewalt gegen Journalistinnen und Journalisten. Den Mord eingeschlossen. In der Türkei, in Eritrea, in Iran, in Russland, in Syrien, in Bangladesch, in Polen, in Ungarn. Und ja, auch in Deutschland und in der Schweiz, wenn es hier auch weit subtilere Formen gibt, journalistische Arbeit zu behindern, und sei es, dass Verleger den Kotau vor Inserenten machen und sich damit auch noch öffentlich brüsten.
Keine Springflut an Solidarität
Es ärgert mich, dass man sich nolens volens mit einem überaus primitiven Gedicht solidarisieren muss, nur weil dessen Adressat, ein Autokrat mit zunehmend paranoiden Zügen, sich seinerseits einen Deut um Medien- und Meinungsfreiheit schert und bei der Abkanzelung seiner Gegner rhetorisch auch ganz gerne in die Jauchegrube steigt.
Weil es lange vor „Neo Magazin Royal“ internationale Organisationen gab, die fernab von fetten Schlagzeilen beharrlich für die Rechte und den Schutz von Journalistinnen und Journalisten kämpfen. Ihnen gemein ist, dass sie notorisch klamme Kassen haben und nicht auf eine Springflut an Solidarität hoffen dürfen, weil sie gerade auf lustig machen und in Stotterreimlaune sind.
Erdogan ist ein Serienkläger, seit Jahren schon. Fast 2000 Anschuldigungen hat er vor Gericht eingereicht, persönlich, viele gegen missliebige Journalisten. Gross interessiert hat das bis vor Kurzem hierzulande kaum. Es braucht eine Comedy-Sendung auf einem Nischen-Kanal und eine perfekte mediale Inszenierung, dass wir uns empören. Über eine Person. Nicht über ein Problem, das endemisch ist und auch nicht auf einen Staat reduziert werden kann.
Erdogan ist eine Chiffre
Erdogan wäre eigentlich nur eine Chiffre. Ärgerlich ist, dass dies Böhmermann nicht begriffen hat. Im Zentrum seiner Kritik steht eben gerade nicht der Kampf für die Sache, sondern die Provokation einer Person zur eigenen Profilierung. Das ist vor allem einmal berechnend. Nicht besonders mutig. Und ob gewollt oder nicht; die zynische Konsequenz daran ist, dass die Schmäh den bedrängten Journalisten nicht hilft. Weder in der Türkei noch sonst wo.
Die Begriffe Meinungs- und Medienfreiheit liegen jeweils leicht auf der Zunge. Wohlfeil ist es, sie nur dann mit Tremolo zu verteidigen, wenn die Kamera läuft, es nach Spektakel riecht und die Akteure klingende Namen tragen. In Wahrheit bedrängt aber sind jene, die fernab vom grossen Getöse von der Justiz verfolgt oder gar getötet werden. Shafik Rehman (Bangladesch) zum Beispiel, Naji Jerf (Syrien), Ibrahim Abdul-Qadir (Türkei), Hamid Mir (Pakistan), Mukosha Funga (Sambia) oder Deepak Jaiswal (Indien). Und zig andere mehr.
Einer ist in aller Munde. Beim grossen Rest aber herrscht Schweigen.