Die von der „Alternative für Deutschland“ den etablierten Parteien in Mecklenburg-Vorpommern verabreichte Ohrfeige schmerzt. Nach der Wahlniederlage war die Schuldige rasch benannt: Angela Merkel und ihre Flüchtlingspolitik. Und dennoch ist es richtig, dass die deutsche Kanzlerin ihrer Linie treu bleibt.
Was unzählige Male wiederholt wird, verfestigt sich irgendwann zu einer Form der Wahrheit: Bundeskanzlerin Merkel trägt Schuld an der Flüchtlingsmisere im eigenen Land. Und ist somit auch verantwortlich für den kometenhaften Aufstieg einer rechten Brüll- und Protestbewegung, die sich vollmundig als «Alternative für Deutschland» tituliert. Willkommenskultur und Durchhalteparole «Wir schaffen das!» dienen als die immer gleichen Belege für diese vielstimmige Kritik.
Was wäre eigentlich geschehen?
Das Merkel-Bashing ist ein Musterbeispiel für den medialen Lemming-Effekt: immer mehr vom immer gleichen. Der pflegliche Umgang mit den Opfern von Gewalt, Zerstörung und Perspektivlosigkeit gilt landläufig als blauäugig; das Hochhalten von – notabene christlich-abendländischen – Werten wie Nächstenliebe, Fürsorge, Respekt und Barmherzigkeit wird als Zeichen von Führungsschwäche, Staatsversagen und Gutmenschentum lächerlich gemacht.
Fakten sind irrelevant; was zählt, ist einzig die Wahrnehmung von Politik, nicht der Sachzwang, nicht das Machbare. Und so fragt kaum mehr jemand, was denn eigentlich geschehen wäre, hätte die Kanzlerin Ende August 2015 die Grenzen Deutschlands dichtgemacht. Etwa in Österreich, wo in jenen Tagen der Wiener Bürgermeister Häupl meinte, es sei eben ein Unterschied, ob man Jausestation für Durchreisende sei oder aber Dauergäste bewirten müsse. In Ungarn, wo ebenso eilfertig Busse und Züge organisiert wurden, um die Menschenmassen möglichst rasch nach Westen durchzuschleusen. Oder in Slowenien, wo man sich mit Stacheldrahtverhauen behelfen musste. Als hätte damals irgendeiner dieser Staaten Schengen/Dublin durchgesetzt.
Vielleicht etwas viel Pathos
Ja, Merkel hat die Tore weit aufgetan – unkompliziert, mit etwas viel Pathos vielleicht, aber überlegt und geläutert von der harschen Kritik über die angebliche Hartherzigkeit Deutschlands während der Finanzkrise. Sie wusste: Europa wäre an der Weigerung Berlins, den Druck abzufedern, zerbrochen. Menschliche Tragödien hätten sich vor laufender Kamera abgespielt; die Rechtspopulisten in Europa viel rascher und wohl noch deutlicher Zulauf bekommen.
Merkel hat die Willkommenskultur nicht erfunden, das waren schon die Deutschen selbst. Aber sie ist zu Recht stolz auf sie. Weil in der Tat die Aufnahmebereitschaft bewundernswert ist, bei allen Problemen, die weder schöngeredet noch skandalisiert gehören. Und wie sich gerade in Bayern zeigt, wo die Kanzlerin am schärfsten angegriffen wird: Deutschland schafft das, auch wenn es lange dauern wird.
Zeit, sich zu profilieren
Der Aufstieg der AfD ist inhaltlich zu bedauern, weil die Partei eine Alternative für Deutschland skizziert, die weder dem Land und seinen Bürgern noch Europa und dessen Stabilität guttut. Für die Demokratie aber stellt die Relativierung der Allpotenz grosser Volksparteien vorerst keine Bedrohung dar. Im Gegenteil: Jahrelang wurden die fehlende innerparlamentarische Opposition und die absolute Dominanz der Grossen Koalition beklagt: Et voilà – nun gibt es eine! Es ist Zeit, sich zu profilieren.
Und genau das tut Merkel bewundernswert unverdrossen, ja bisweilen fast schon stur, wenn auch keineswegs kompromisslos: Sie hält ihren Kurs und bietet so im wahrsten Sinne eine Alternative für Deutschland.