Am 23. Juni entscheiden die Briten über den Verbleib in der Europäischen Union. Ein Brexit, also der Austritt des Vereinigten Königreichs, wird von vielen als Katastrophe betitelt, als möglicher Anfang des Zerfalls des europäischen Integrationsprojektes. Auch wenn ich gegen den Brexit bin, so düster sehe ich das nun doch nicht. Im Gegenteil.
Liebe Nachbarn, schon gesehen? Es brennt länger Licht in Downing Street 10. David Cameron hat schlaflose Nächte, weil ihn in wenigen Tagen der Fluch seiner bösen Tat einholen könnte.
Es steht Spitz auf Knopf, der Ausgang des Referendums in Grossbritannien über den Austritt aus der Europäischen Union am 23. Juni, den sogenannten Brexit. Der britische Premier wird sich die Haare raufen, der Bevölkerung 2013 die Abstimmung angesichts der wachsenden Stärke der antieuropäischen Ukip versprochen zu haben. Denn Cameron will alles für Grossbritannien, eines aber ganz bestimmt nicht: als derjenige in die Geschichte eingehen, der das Vereinigte Königreich aus der Union geführt hat – was nicht ganz ohne Ironie wäre, war es doch mit Edward Heath ebenfalls ein proeuropäischer Konservativer, der die Inseln 1973 in die Union führte.
Jeder seines eigenen Glückes Schmied
Als Schweizer finde ich es ja gut, dass die Briten über die Frage abstimmen dürfen. Ich fände es noch besser, wenn sie blieben – aber bitte, jeder soll seines eigenen Glückes Schmied sein. Aus eigener direktdemokratischer Erfahrung wissen wir nur zu gut, dass das Volk zwar immer recht hat, aber nicht zwingend auch immer richtig entscheidet.
Was mich eher stört ist die Empörung darüber, dass die Briten überhaupt zur Urne gerufen werden. Wie viele Seminararbeiten sind denn schon über die fehlende Verankerung des Elitenprojektes in den Herzen der Bürger geschrieben worden? Wie oft wird in Sonntagsreden über die mangelhafte demokratische Fundierung geklagt, über die fehlende Identität Europas? Et voilà: Nun dürfen die Briten Ja oder Nein sagen, über «to be or not to be» richten, wie es vor ihnen in anderen Fragestellungen schon die Franzosen, die Dänen, die Iren oder auch indirekt die Griechen getan haben. Europa ist daran nicht zerbrochen.
Abschreckung für Nachahmer
Das wird auch nicht passieren, wenn Grossbritannien für den Austritt votiert. Allein schon deshalb nicht, weil der Grad der gegenseitigen Verflechtung die Herauslösung der Briten zu einem langwierigen und komplexen Prozess macht. Das schreckt Nachahmer ab. Ganz sicher! Zumal Brüssel im Einklang mit den meisten nationalen Regierungen alles daran setzen wird, den Briten die Scheidung möglichst teuer zu verkaufen – und für sich selbst ein Maximum an Nutzen herauszuziehen.
Und wer weiss, vielleicht schweisst dieser absehbare Rosenkrieg die plötzlich Verschmähten sogar zusammen. So könnte ein allfälliger Brexit die Union über Zeit stärken, weil sie gezwungen wäre, sich neu zu sortieren und vor allem auch zu reformieren.
Alles also gar kein Problem? Cool bleiben und Tee trinken? Nein, leider auch nicht. Denn ein Ja zum Brexit würde nur das befördern, was dieses Europa seit jeher meisterlich beherrscht: Das Durchwursteln durch die nächste Krise.
Politische Agonie wird perpetuiert
Und genau deswegen kann man auch als Schweizer eigentlich kein Interesse daran haben, dass die Briten die Union verlassen. Denn uns bringt es nichts, wenn der wichtigste Handelspartner seine politische Agonie perpetuiert. Daher hatte Konrad Adenauer schon recht, als er 1948 mahnte: «Wir können nur wünschen und hoffen, dass die englische Öffentlichkeit endlich einsieht, dass England eine europäische Macht geworden ist, dass England mit Europa steht und fällt.»
Erstmals in der Sonntagszeitung vom 12.6.2016 erschienen.