Wer von Migration als Bereicherung und Chance spricht, gilt als Gutmensch und Naivling. Angesichts der demographischen Entwicklung ist aber für fast alle Staaten Europas Zuwanderung für die Wohlstandssicherung unabdingbar, auch für die Schweiz. Nun kommen plötzlich ganz viele Menschen. Und sie sind überdurchschnittlich bereit, für ein besseres Leben zu kämpfen. Warum nutzen wir das nicht?
Man schimpft wieder „Neger“. Zündet Flüchtlingsheime an. Hetzt, verbal, mit Facebook-Postings, mit dümmlichen Sprüchen: Gegen Scheinasylanten, Wirtschaftsflüchtlinge, Drückeberger, Pseudo-Fachkräfte und ganz generell gegen all jene, die dieser Tage zu Tausenden Einlass nach Europa fordern. Der braune Pöpel feiert Hochkonjunktur. In Deutschland, in Ungarn, in Österreich, in der Schweiz. Es labt sich der niedrige Instinkt der Wohlstandssatten am Schicksal von Menschen, die Wohlergehen – wenn überhaupt – nur noch in der Vergangenheitsform kennen.
Noch ist es eine Minderheit, die sich so aufführt, weil eine Mehrheit Menschlichkeit, An- und Verstand zu paaren weiss. Noch. Aber die Biedermänner sind instinktsichere Brandstifter. Sie wissen um die Verunsicherung in weiten Teilen der Bevölkerung, um die menschliche Skepsis vor Veränderung und dem Fremden, um die Angst vor dem Abstieg, vor dem Unverständlichen, dem anderen Aussehen, dem Kopftuch, der Ärmlichkeit, den Kriegstraumata, der Gewalt, der Hoffnungs- und Perspektivenlosigkeit jener, die da kommen. Zu Tausenden.
Will man diesen Ansturm mit Menschlichkeit und Vernunft meistern und gleichzeitig das zersetzende Gift des Fremdenhasses wirksam bekämpfen, dann müssen mehrere Dinge gleichzeitig getan werden:
Erstens braucht es einen gesamteuropäischen Verteilschlüssel, welches Land wie viele Flüchtlinge pro Zeitraum aufnehmen und betreuen muss. Dabei zählt in erster Linie die wirtschaftliche und institutionelle Leistungsfähigkeit eines Landes, nicht einfach nur Grösse und Bevölkerungszahl. Die Schweiz etwa kann und soll mehr Flüchtlinge aufnehmen. Zürich hat diesen Sommer einmal mehr einen Millionenanlass überlebt. Die Stadt sah zwar längere Zeit danach aus wie Sau. Effektiv problematisch aber war der Massenansturm zu keinem Zeitpunkt.
Zweitens ist die Selektion zwischen humanitär bedingter temporärer Aufnahme, der Asylgewährung aus politischen oder humanitären Gründen und der Arbeitsmigration zu schärfen, auch wenn in vielen Fällen diese Kategorisierung dem individuellen Drama nicht gerecht wird. Aber nur so lässt sich für die betroffenen Staaten abschätzen, wo welche Massnahmen wirklich zu treffen sind.
Drittens würde eine frühzeitige Selektion zwischen jenen, die auf Nothilfe angewiesen sind und jenen, die Kraft ihrer Ausbildung, ihrer Berufserfahrung, ihres Ehrgeizes und ihrer Adaptionsfähigkeit durchaus in der Lage wären, für sich selbst zu sorgen, den Druck auf Behörden und Institutionen reduzieren. Denn so elendiglich der Anblick der am Strand von Lesbos anlandenden und aus übervollen Zügen in München herauspressenden Flüchtlingen auch ist: Diese Menschen sind nicht einfach bedürftig. Sondern in vielen Fällen handeln sie sehr bewusst, wenn auch unter enormen Sachzwängen. Ein Narr, wer glaubt, diese Menschen hätten ihre Heimat aus freien Stücken und frohgemut verlassen. Sie tun es, weil sie nicht mehr anders können. Es ist nicht einfach das „gelobte Land“ Europa, das sie lockt, sondern es ist die Hölle auf Erden, die sie forttreibt. Bleiben werden sie genau so lange, wie es dort, wo sie herkommen, nicht besser wird: wenn also Krieg, Hunger, Zerstörung und wirtschaftliche Perspektivenlosigkeit andauern.
Hier, viertens, hat der Westen, allen voran Europa, in den letzten Jahren kläglich versagt. Dem syrischen Drama hat man tatenlos zugesehen, weil man sich die Hände nicht schmutzig machen wollte – oder in der Diktion jener, die nun mit dümmlichen Facebook-Postings und schriller Wahlkampfpolemik Kapital aus den Folgen schlagen wollen: „Sie mögen sich die Köpfe einschlagen, uns ficht das nicht an“. Als könne man dem Regen sagen, den eigenen Sonnenplatz nicht zu netzen. Wer also künftig weniger Flüchtlinge will, muss sehr viel mehr tun, die Ursachen für Flucht zu bekämpfen.
Fünftens ist das Dublin-Abkommen faktisch Makulatur, solange an den Aussengrenzen des Schengen-Raums keine entsprechenden Kapazitäten bestehen, mit so vielen Menschen zugleich fertig zu werden. Es war ein Fehler, das Botschaftsasyl abzuschaffen, und es ist fatal, dass Europa, die Schweiz einbezogen, nicht schafft, in enger Zusammenarbeit mit den angrenzenden Staaten, dem Uno-Flüchtlingshilfswerk und humanitären Organisationen Auffanglager dort zu organisieren, wo die Menschen vor direkter Bedrohung sicher sind und sich gleichzeitig nicht in neue Gefahren begeben. Es braucht solche Zentren an den Küsten Nordafrikas und in den Grenzgebieten zu Syrien. Unter Uno-Mandat sind diese militärisch zu sichern, weil es naiv ist anzunehmen, dass es ohne robuste Massnahmen gelingt, Tod und Elend zu stoppen. Solche Auffangzentren würden auch einen guten Teil des Schleppermarktes zerstören.
Sechstens böten solche Erstaufnahme-Lager die Gewähr, Menschen in Not sachgerecht zu versorgen, ihnen Schutz zu bieten und sie je nach Betroffenheit und Bedrohung auf einzelne Staaten aufzuteilen. Die Triage müsste dabei auch die Arbeitsmigration und den Wirtschaftsflüchtling einbeziehen, ob das nun nach einem Punktesystem oder in Kontingenten geschieht. Es gibt keinen Grund, in einem solchen Pool nicht nach Talenten, Qualifikationen und Ehrgeiz zu suchen – die für den hiesigen Arbeitsmarkt ein Gewinn wären. Schweizer Baufirmen haben in Sechziger- und Siebzigerjahren auf dem Balkan, in Italien und in Portugal genau das gemacht; sie haben vor Ort nach Maurer, Eisenleger oder Gipser gesucht und sie zum Teil gleich in deren Heimat auf die neue Stelle in der Schweiz vorbereitet. Dem Land hat es wahrlich nicht geschadet.
Siebtens ist bei jenen, die permanent aufgenommen werden, eine konsequente Integrationsleistung einzufordern und bei Widerstand auch zu sanktionieren. Dazu gehört in erster Linie die Fähigkeit, sich sprachlich einzugliedern, vor allem aber auch die Bereitschaft, die Rechte und Pflichten des Aufnahmelandes zu respektieren. Das schliesst die Pflege des kulturell, sozial oder religiös Eigenen überhaupt nicht aus. Der Vorrang von Verfassung, Gesetz, Sitten und Bräuche des Aufnahmelandes legt aber fest, in welcher Abhängigkeit der Einzelne seine Individualität ausleben kann. Das gilt notabene für den Fremden genauso wie für den Einheimischen.
Achtens wird auch damit das Flüchtlingsproblem nicht einfach verschwinden. Es wird weiterhin Menschen geben, die andere Wege wählen, Schlepper für Fluchtrouten bezahlen, Ausweispapiere vernichten und in die Illegalität abtauchen. Angesichts der Dimensionen aber können solche Massnahmen zu einer Entschärfung beitragen, Leid lindern, Tragödien verhindern und Potenziale für Arbeitsmarkt und Gesellschaft heben. Und jenen Kraftmeiern die Stimme nehmen, die meinen, aus dem Elend anderer Profit schlagen zu können. Gutmenschentum so verstanden ist keine Schande, sondern eine liberale Tugend.