In Demokratien gilt ein Militärputsch als Fanal. Entsprechend eindeutig waren die Reaktionen auf den Versuch, in der Türkei die Macht Erdogans mit Waffengewalt zu brechen. Dieser nutzt die Gunst der Stunde eiskalt aus. Was zur Frage führt: Darf man wirklich nicht putschen?
Seien wir ehrlich: Nicht wenige auch in Wolle gefärbte Demokraten dürften in der Nacht vom letzten Freitag insgeheim gehofft haben, die Putschisten in der Türkei würden obsiegen und Präsident Recep Tayyip Erdogan aus Amt und Würde jagen.
Kein lupenreiner Demokrat
Man mag ihn nicht, vor allem nicht in westlichen Kreisen, den schnauzbärtigen Rabauken, der auch im direkten Gespräch gerne einmal laut wird und fast jede kritische Frage als anmassend empfindet.
In den letzten Jahren hat er gleich im Dutzend missliebige Journalisten ins Gefängnis werfen lassen. Er zwingt die Richter auf Linie und verdächtigt die Kurden pauschal des Terrorismus. Und er führt Krieg, im Innern und im Ausland. Ein lupenreiner Demokrat, wie einst in schwer nachvollziehbarer Kumpanei ein lupenreiner deutscher Demokrat den russischen Präsidenten Putin nannte, ist auch Erdogan längst nicht mehr.
Aber ein Putsch ist keine Flower-Power-Demonstration, bei der die Protestierenden händchenhaltend durch die Strassen ziehen und Luftballone steigen lassen. Es wird geschossen, Panzer rollen, Düsenjets röhren. Und es kommen Menschen zu Tode. Rund 300 waren es in einer Nacht in der Türkei, unter ihnen viele Zivilisten. Und das wäre mit Sicherheit erst der Anfang gewesen von einer Eskalation, die durchaus auch in ein Blutbad wie in Syrien hätte münden können.
Sieg der Demokratie – und der Demokraten
Die Demokratie wird zur Farce, wenn sie – egal aus welchen Motiven – kurzfristig mit Waffengewalt ausgeschaltet wird, um eine neue («bessere») Ordnung durchzusetzen. In Europa hat es dafür keinen Platz mehr. Das haben die Putschisten offenkundig übersehen. Oder sie haben die vielstimmige Kritik an der Amtsführung und am Staatsverständnis ihres Präsidenten falsch gedeutet.
Niemand von Rang und Namen, selbst nicht die ärgsten Gegner Erdogans, hat ihnen zugejubelt. Erdogan deutet dies als Sieg der Demokratie. Das ist richtig. Aber es ist auch ein Sieg der Demokraten in seinem Land, jener Kräfte, die neben Medien- und Meinungsfreiheit auch auf Rechtsstaatlichkeit pochen. Und diese Menschen hatten bei ihrer Distanz zu den Putschisten zweifellos nicht den Machterhalt der AKP-Regierung vor Augen, sondern die prinzipielle Verteidigung demokratischer Grundwerte.
Ein Putsch ist eben kein Volksaufstand. Letzteres kann als Ultima Ratio ein legitimer, wenn auch vielleicht nicht legaler Akt bürgerlicher Vernunft oder auch der Verzweiflung sein. Das nannte sich früher Revolution, heute etwas poetischer «Frühling», ob auf Ungarisch oder Arabisch.
Widerstandsrecht des Souveräns
Das Widerstandsrecht des Souveräns gegen die Demontage der verfassungsmässigen Ordnung wird als Prinzip in vielen Rechtsstaaten anerkannt. In Artikel zwanzig des deutschen Grundgesetzes ist es sogar explizit als Volksrecht verankert, auch wenn als zwingend erachtet wird, dass zunächst alle anderen Mittel auszuschöpfen seien.
In einer Demokratie klingt das gut. In einer Diktatur eher utopisch.
So lautet denn die Antwort klar und deutlich: Nein, man darf nicht putschen. Aber es gibt ein Recht des Bürgers, sich gegen die Demontage der Demokratie zur Wehr zu setzen, gegen Repression, Willkür, Korruption und politischen Machtmissbrauch aufzubegehren, auch wenn diese von demokratisch gewählten Politikern begangen oder gefördert wird.
In einem Rechtsstaat gibt es dafür Mittel und Wege. Was aber, wenn dieser nach und nach ausgeschaltet wird?
Erstmals in der Sonntagszeitung am 24.7.2016 erschienen.