In Europa, aber auch im Vorwahlkampf in den USA, erhalten Parteien und Kandidaten Zustimmung, die polemisieren und polarisieren. Die Reaktionen darauf sind ihrerseits oft hochgradig emotional. Demokratie lebt von Reibung, aber auch vom Ausgleich. Hat es von einem zu viel, vom anderen zu wenig, verliert sie an Glaubwürdigkeit. Finde ich in der Sonntagszeitung.
Es herrscht Sittenzerfall im demokratischen Schlaraffenland. In Deutschland wie in Österreich, in Frankreich wie in den USA, durchaus auch in der Schweiz. Statt auf Respekt vor der Position des anderen wird auf Lagerkampf getrimmt, als gäbe es kein Morgen, ganz nach der Devise: «Ich hui, du pfui!»
Politik war noch nie ein Geschäft für Zartbesaitete. Wer es harmonisch mag, sollte lieber davon Abstand nehmen. Und doch, es gäbe Grenzen – die zu ziehen nicht in erster Linie eine Frage der moralischen Erhabenheit ist, sondern ein Gebot der Vernunft. Weil die Glaubwürdigkeit der Demokratie auf dem Spiel steht. En vogue aber sind Ausgrenzung, Beschimpfung, Diffamierung, Radikalität.
Zahmer Wolf, trotzdem Schafspelz
Besonders gutes Anschauungsmaterial liefert dieser Tage Österreich, wo der Kandidat der Rechten für das Amt des Bundespräsidenten, Norbert Hofer, im ersten Wahlgang haushoch siegte. In der Stichwahl vom 22. Mai wird er nun gegen den zweitplatzierten Grünen Alexander Van der Bellen antreten. Seine Chancen, auch diese Ausmarchung für sich zu entscheiden, sind gut.
Der FPÖ-Mann polarisiert, obwohl er, atypisch für seine Partei, den zahmen Wolf im Schafspelz mimt und auf aggressive Polemik verzichtet. In der Sache aber ist er knallhart – und er steht dazu. Wer ihn wählt, weiss demnach, was er bekommt: Politik nach Gusto der Freiheitlichen, also Grenzen zu, Ausländer raus, fertig lustig mit Europa. Wer das nicht will, hat die Alternative in Grün. So funktioniert eine Stichwahl.
Simpel, unredlich, aber es funktioniert
Es heisst, der Bürger fürchte sich vor zu viel Ausländern, vor Verarmung, vor der Globalisierung, TTIP, vor dem Klimakollaps. Und daher wählt er Köpfe, die diese Ängste bedienen, weil sie Remedur versprechen, auf Kosten jener, die für die Ängste verantwortlich gemacht werden. Das ist simpel, das ist unredlich, aber es funktioniert. In Österreich genauso wie in der Schweiz oder im Vorwahlkampf der Republikaner in den USA.
Bequem ist es, dafür nur den Populismus zu schelten. Ihn stark gemacht haben in fast allen Fällen die Zerstrittenheit und der Opportunismus seiner Gegner. Und das mündet in den wütenden Protest der Wähler. So geschehen bei der Grand Old Party, die es in den USA über zwei Legislaturperioden nicht geschafft hat, den eigenen Anhängern ein Programm zu vermitteln, dem das Attribut «glaubwürdig» verliehen werden könnte. Sich auf Totalobstruktion gegen einen ungeliebten Präsidenten zu versteifen, war für den eigenen Zusammenhalt zu wenig. Eiskalt ausgenutzt hat das Donald Trump. Und siehe da: Er ist derzeit die einzige Alternative zu Hillary Clinton – und alle sind entsetzt.
Durchwurschteln als Konzept
In Österreich wiederum kaprizieren sich zwei Volksparteien seit Jahren auf das Durchwurschteln statt auf das Regieren. Sie haben zwar den Ämter- und Postenschacher perfektioniert, mit ihrer atemberaubenden Wandlungsfähigkeit aber selbst unter treusten Parteigängern Raubbau betrieben. Wen wundert es, dass ihre Kandidaten weit abgeschlagen auf den hinteren Plätzen landen? Nun triumphiert die Rechte – und alle sind entsetzt.
Politik lebt von Reibung. Aber eben auch von Berechenbarkeit. Von Glaubwürdigkeit. Von Haltung. Und einem Mindestmass an Ausgleich. Hat es von allem zu wenig, bläst der Wutbürger zum Halali. Und alle sind entsetzt.