Die Blutspur des islamistischen Terrors in Europa ist lang. Und doch: Auch wenn uns die Bilder aus Brüssel oder aus Paris aufwühlen, sollten wir nicht den Fehler begehen, die Taten als existentielle Bedrohung unseres Lebensstils zu überhöhen. Denn genau das wollen die Terroristen. Meine Gedanken dazu, erstmals publiziert in der Sonntagszeitung.
Der Widerhall des Terrors ist jeweils laut. Die Opferbergung in Brüssel war noch im Gange, da sprach der französische Präsident Hollande erneut von einem «Kriegszustand», in dem sich Europa seit Monaten befinde. Sein Amtskollege im Kreml nannte die Tat «barbarisch». Ausgerechnet Putin. Und beide wurden sekundiert von Politikern aller Couleurs, die ihrem Abscheu, ihrer Betroffenheit und ihrer Solidarität wortreich Ausdruck verliehen.
Die Täter gewinnen, wenn wir sie überhöhen
Nachrichtensender und Onlinemedien wühlen fast schon reflexartig in der Kiste der verstärkenden Adjektive, weil ein Terroranschlag nicht mehr einfach nur ein Terroranschlag sein kann, sondern ein «menschenverachtender, feiger, hinterhältiger, grausamer, schrecklicher, bösartiger, teuflischer, kaltblütiger, brutaler» Akt der Gewalt. Als gebe es den freundlichen, menschlichen, guten Terror.
Auch die Beschreibung der Szenen nach den Anschlägen ist immer die gleiche: Panik, Schrecken, Chaos, Ausnahmezustand. Wie sollte es denn bitte anders sein? Die Bombe explodiert, es wird geschossen, und alles nimmt seinen gewohnten, gemächlichen Lauf?
Dies ist kein Plädoyer für mehr Gelassenheit in Zeiten der ständigen Bedrohung durch islamistische Gewalt. Und schon gar nicht die Verharmlosung dessen, was in Belgien geschehen ist. Aber wir sollten alles daransetzen, die Taten nicht zu überhöhen. Wenn wir die Logik der Terroristen durchbrechen wollen, dann dürfen wir nicht jedes Mal den Ausnahmezustand vom Ausnahmezustand ausrufen. Statistiken können den Schrecken nicht nehmen, den Terror auf eine Gesellschaft ausübt. Aber wir können Proportionen zurechtrücken.
Denn so sehr uns die Bilder aufwühlen, weil wir selbst oder unsere Nächsten hätten betroffen sein können – in Molenbeek, im Bataclan, am Strand von Sousse, in den zerquetschten S-Bahn-Wagen vor Madrid oder im «Windows of the World» im nördlichen Twin Tower: Der islamistische Terror hat in Europa in den letzten 20 Jahren weniger Opfer gefordert als alle anderen Anschläge in den Jahrzehnten zuvor. Und pro Jahr kommen in den USA durch privaten Schusswaffengebrauch oder in Europa im Strassenverkehr weit mehr Menschen ums Leben.
Terroristen-Jagd im Online-Liveticker
Terror will Panik erzeugen. Wen es trifft und warum, ist inzwischen völlig egal. Wichtig ist das Wie und Wo. Das grausige Spektakel also ist das Ziel. Dass diese perfide Logik immer wieder aufgeht, liegt auch daran, dass wir den Mördern die Inszenierung viel zu leicht machen. Sie können sicher sein, dass ihre krude Botschaft tausendfach verbreitet wird – inzwischen auch im Online-Liveticker wie bei einem Fussballspiel.
Dabei bräuchte Betroffenheit nicht viele Worte, der Schrecken und das Leid der Opfer nicht möglichst viele Bilder. Selbst wenn es ehrlich gemeintes persönliches Mitgefühl ist und nicht billiger Voyeurismus: Es belohnt trotzdem nur die Täter.
Man kann Terror nicht totschweigen, schon gar nicht in einer Welt der Bits und Bytes. Aber die Wahl der Worte und die Art der Berichterstattung können ihren Teil dazu beitragen, diesen Kraken über Zeit zu besiegen, statt ihn immer grösser zu machen.
Darum irrt Hollande: Europa befindet sich nicht im Krieg! Nach Brüssel nicht, nach Paris nicht. Der Blutrausch einiger weniger gefährdet nicht unsere Demokratie. Lassen wir uns unsere Freiheit niemals nehmen von jenen, die sie hassen. Machen wir diese Täter nicht grösser, als sie es sind.
Im Gegensatz zur Print-Version in der Sonntagszeitung wurde dieser Artikel wie folgt korrigiert:"Der islamistische Terror hat in Europa in den letzten 20 Jahren weniger Opfer gefordert als alle anderen Anschläge in den Jahrzehnten zuvor" (und nicht in Europa und in den USA).