Es gibt tausend Gründe, mit Europa zu hadern. Und sich vor der Zukunft zwischen russischer Grossmachtssucht und postfaktischer Nonchalance à la President elect Trump zu fürchten. Oder aber wir sehen es als Chance, dieses Europa neu zu denken.
Europa klagt. Über sich selbst, über ruppige Nachbarn (im Osten, neu auch im Westen), über Flüchtlinge, über Krisen und deren Nicht-Bewältigung, über Populismus und Demokratiedefizite, über Rentenkollaps und die Energiewende. Die Liste ist unvollständig, und sie wird täglich länger.
Obama der uneuropäischste Präsident
Dabei bestünde eigentlich Grund zur Freude. Denn endlich ist er da, der Weckruf, den sich in den letzten Jahren so viele so häufig herbeigewünscht haben. Dem Friedensprojekt der Gründerväter fehle eine Vision für das 21. Jahrhundert, hiess es vielstimmig, nachdem man sich im ausgehenden 20. vor allem über Erfolge der europäischen Integration gefreut hatte, ohne einsehen zu wollen, dass der Schein auch trügen kann.
Die Katharsis könnte Trump bewirken, auch wenn der eben gewählte zukünftige Präsident Amerikas ausser per Twitter verbreiteter Markigkeit noch nicht durch Taten bewiesen hat, was genau er mit Europa anzufangen gedenkt. Wenig, ist die Vermutung – wobei man seinem Vorgänger genau das schon vor Jahren vorgeworfen hat.
Barack Obama war bisher der wohl uneuropäischste Präsident im Weissen Haus. Die Alte Welt war dem Pazifiker fremd; sein Engagement und seine Kenntnis hielten sich in Grenzen, die Zuwendung erfolgte erst spät. Trumps Wahlkampfaussage, dass die USA nicht mehr bedingungslos für Europa die Kastanien aus dem Feuer holen würden, ist daher nicht neu. Auch Obama hat sich in der Vergangenheit schon ähnlich geäussert. In den Ohren Europas klang das jeweils fast charmant. Bei Trump wird es nun als Drohung empfunden.
Sich neu erfinden
Wir sollten es als Chance sehen. Trump liefert Europa den besten Grund, sich selbst neu zu erfinden. Eben nicht mehr nur als Friedensgemeinschaft, sondern als eine innovative, Wohlstand schaffende Organisationsform aus rechtsstaatlich verfassten Demokratien, die bei allen Differenzen eines verbindet: die Einsicht, in einer immer komplexeren und kompetitiveren Welt als Einzelstaaten kaum mehr wahrgenommen zu werden.
Dazu gehört auch, sich militärisch vom Rockzipfel der USA zu emanzipieren, wenn es um die Verteidigung der eigenen Werte gegen Aggression durch Dritte geht – wie sie Russland an den Rändern Europas praktiziert. Es bedeutet hingegen nicht, die «logischen» transatlantischen Bande aufzulösen. Denn unabhängig von heutigen und künftigen Staats- und Regierungschefs beidseits des Atlantiks gründen diese in einer gemeinsamen kulturellen und historischen Erfahrung.
Europa als Kontrastprogramm
Hören wir also auf, über den schrittweisen Rückzug der USA und populistischen Isolationismus zu klagen, und konzentrieren wir uns auf das Kontrastprogramm: ein integratives und dennoch föderal strukturiertes Europa zu entwickeln, in dem das Prinzip des freien Handels und das der offenen Grenzen hochgehalten werden, weil beides einer überwiegenden Mehrheit der Bürger wie nie zuvor in der Geschichte nicht nur materielle, sondern auch physische Sicherheit in nie da gewesener Freiheit garantiert.
Der Doyen der europäischen Idee, der frühere tschechische Aussenminister Karel Schwarzenberg, appellierte dieser Tage anlässlich des Mediengipfels 2016 in Lech am Arlberg: «Wir hatten in den letzten 25 Jahren eine gute Zeit. Nun wird es schwierig. Aber es lohnt sich, mit Freude für Europas Werte zu kämpfen.»
Der Mann wird 80. Es mahnte ein Kind jenes Europa, das einst in Schutt und Asche lag.
Erstmals publiziert in der Sonntagszeitung vom 4. Dezember 2016.