Es ist nicht ganz leicht, in der heutigen Zeit die gute Laune nicht zu verlieren. Wohin man blickt, es wird gejammert, beklagt, beäugt und geängstigt. Besonders ausgeprägt scheint das derzeit in Deutschland der Fall zu sein. Warum bloss?
Die Deutschen gelten als besonders gründlich. Auch bei der Bewirtschaftung von Ängsten. In Talkshows, in Leiterartikeln, an Parteitagen wird kollektiv gemault, gezündelt, problematisiert und in düstersten Farben polemisiert. Die Lust am Schwarzmalen ist ungebrochen. Dabei hätten unter allen Europäern just die Deutschen vermutlich am wenigsten Grund, sich prophylaktisch zu fürchten.
Deutschlands Wirtschaftsmotor läuft wie geschmiert. Noch nie seit der Wiedervereinigung zählte die Republik so viele Erwerbstätige. Die Arbeitslosenquote verharrt auf 6,5 Prozent, so tief wie seit mehr als 20 Jahren nicht mehr. Wolfgang Schäuble, nationaler Kassenwart, freut sich über munter sprudelnde Steuereinnahmen; fünf Milliarden mehr sollen es in den nächsten Jahren im Schnitt sein.
Ventil für latent Hysterisches
Vor allem aber haben die Deutschen eine fähige Bundeskanzlerin. Das ist viel, wenn man sich sonst auf dem Kontinent umblickt. Zugegeben, auch Merkel hat Ärger. Freund wie Feind reiben sich an ihrer Flüchtlingspolitik, die sie in einer verwirrenden Mixtur aus Willkommenskultur, Machtkalkül und knallharter Interessenpolitik seit letztem Herbst vorantreibt. Unbeeindruckt von schlechten Umfragewerten aber bleibt die Kanzlerin stoisch, weil sie weiss, dass sie im Politbetrieb derzeit im wahrsten Wortsinn «alternativlos» ist.
Und genau das schafft das Ventil für latent Hysterisches, weil es letztlich folgenlos bleibt. Es gebe eine «dramatisch» steigende Zahl an Gewalttaten gegen Flüchtlinge, liest man, oder dass die Integration der Migranten in den deutschen Arbeitsmarkt «völlig illusorisch» sei, an der deutschen Aussengrenze «jegliche Kontrolle» verloren gegangen und das Abkommen mit der Türkei «zum Scheitern» verurteilt sei. Hier wird ein Deutschland beschrieben, das in Chaos und Anarchie versinkt. Idomeni allerdings liegt in Griechenland.
Deutung kollektiver Paranoia
Inzwischen ist die Balkanroute geschlossen, die Zahl der Flüchtlinge deutlich gesunken. Nach Wochen des Improvisierens kehren Gewissenhaftigkeit, Ordnung und Stabilität zurück. Eigentlich könnte man also etwas aufatmen, gelassener werden. Ein wenig mindestens. Aber nein: Wenn nicht das Migrationsthema, dann die Chlorhühner (TTIP), Glyphosat (Monsanto), der drohende Brexit oder Trump. Angeblich soll es schon Deutsche geben, die ihre Siebensachen packen und nach Ungarn umsiedeln. Andere wählen die AfD – oder gehen streiken.
Heerscharen von Literaten, Soziologen, Historikern und selbst Neurowissenschaftlern haben sich schon mit der «deutschen Angst» beschäftigt. Ob es sie als kollektive Paranoia überhaupt gibt, ist umstritten. Sicher ist nur, dass sie medial und politisch sorgsam kultiviert wird. Und den Zeitgeist trifft.
«Was mich irritiert, ist, dass ich manchmal fast so etwas wie eine Freude am Scheitern beobachte», hat Angela Merkel dieser Tage in einem Interview mit der «Frankfurter Allgemeinen» gesagt. Gemeint hat sie das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei. Gemünzt war es vielleicht auch auf die Befindlichkeit vieler ihrer Landsleute.
Immerhin scheinen diese in den eigenen vier Wänden nicht gar so verzagt: Gemäss Geburtenstatistik zeugen sie jedenfalls wieder mehr Kinder als in den Jahren zuvor. Es spüren also nicht nur die Schwarzmaler den Frühling.
Erstmals am 29.5.16 in der Sonntagszeitung erschienen.