Das simple Argument ist en vogue; einfache Rezepte zur Lösung komplexer Sachverhalte haben eine hohe Verführungskraft. In der Migrationspolitik genauso wie bei der Bekämpfung der Kriminalität. Doch wohin führt uns das als Demokratien? Meine Gedanken dazu, erstmals publiziert in der Sonntagszeitung.
Die Menschheit hat schon einen weiten Weg zurückgelegt. Vom gebeugten zum aufrechten Gang, von der Steinaxt zur Kampfdrohe, vom Feuerspan zum Atommeiler, vom Pfahlbau bis zum Mond. Vielleicht ist die Wegstrecke aber immer noch zu kurz, um zwischen dem Neandertaler und dem einsichtsfähigen homo sapiens schon signifikante Unterschiede ausmachen zu können.
200’000 Jahre genetische Entwicklung
In den rund 200’000 Jahren, in denen wir unsere genetische Entwicklung einigermassen gesichert überblicken, sind wir zwar unendlich viel wissender und fähiger geworden. Aber als Gattung tun wir uns genauso schwer wie unsere Vorfahren, weise, vernunftbegabt und friedlich miteinander umzugehen.
Denn wäre dem anders, gäbe es weder den Islamischen Staat mit seiner kruden Allmachtsphantasien, noch die nie endenden Kriege auf dieser Welt, weder Hunger noch Seuchen, und auch keine Diktatoren, Autokraten und Populisten.
Irren viele, ist es nicht einfach richtig
Wir würden uns auch nicht hartnäckig der Erkenntnis verweigern, dass eine Demokratie nicht naturgegeben ist, sondern immer wieder erkämpft werden muss. Ihr ärgster Feind ist dabei ihr schlagender Vorteil gegenüber allen anderen Staatsformen: Das Prinzip der Mehrheit. Weil diese eben auch unvernünftig entscheiden kann. Die unterlegene Minderheit hat das zu akzeptieren. Irren ist menschlich. Aber irren viele, dann ist dies trotzdem nicht plötzlich Schwarmintelligenz, sondern immer noch das Gegenteil. Und kollektive Verblendung kann an Abgründe führen.
Und vor solchen stehen wir sehr schnell, wenn wir in Zeiten komplexer Probleme nach immer einfacheren Lösungen rufen. Denn es nährt den Boden für Kräfte, die an der Bewältigung der Herausforderungen weder interessiert noch dazu fähig sind. Der Populismus ist eine Blase, die platzt, sobald sie der Realität standhalten muss, die sie eben noch gross gemacht hat.
Ein Halali auf jede Differenziertheit
Der potenziell zukünftige Präsident Amerikas etwa schimpft die deutsche Bundeskanzlerin wegen deren Migrationspolitik als „wahnsinnig“ – was sie mutmasslich von ihm denkt, wenn er verkündet, die 12 Millionen Papierlosen in den USA auszuweisen, dem IS in den Hintern zu treten und die Grenze zu Mexiko mit einer Mauer abzuriegeln, so denn gewählt. In Polen, Ungarn und in der Türkei stilisieren demokratisch gewählte Staatsführer den Nationalismus zum Dogma empor und demontieren dafür Verfassung und Rechtsstaat.
In Österreich, Schweden, Finnland, Frankreich oder in Deutschland poltern Rechtspopulisten gegen jede Differenziertheit im Umgang mit den drängenden Problemen der Gegenwart, allen voran der Flüchtlingskrise, während in der Schweiz – demokratischer geht’s nimmer – ein politischer Grossvater sein Land in eine Diktatur abgleiten sieht, wenn Richter Recht sprechen. So klingen Stimmen in Demokratien im Jahre 2016, die einen noch jung und fragil, die anderen schon alt und gefestigt. Und sie alle stossen auf beunruhigend grossen Zuspruch.
Die Bühne für Simpel und Populisten
Wir vertrauen auf die Selbstheilungskräfte der Demokratie, über Zeit wieder zu korrigieren, was wir uns selbst einbrocken, wenn wir Simpeln und Populisten die Bühne geben. Gut geht das solange, wie der Grundsatz gilt: Wer gewählt wurde, kann auch wieder abgewählt werden. Was aber, wenn dieser Grundsatz brüchig wird? Wenn gewisse Sicherungen schon vor dem grossen Knall rausgedreht wurden?
Der homo sapiens weiss: Für die Antwort darauf braucht es keine Rückschau auf 200’000 Jahre; es reichen die letzten 100. Aber versteht er es auch?