Michel Houellebecq ist ein toller Autor. Und ein scharfzüngiger Polemiker. Auch ein düsterer Mahner. Vor allem aber kein Freund von Heiterkeit. Und er ist reichlich verantwortungsbefreit. Eine kurze Gegenrede.
Dieser Herbst ist zu mild, um bereits in winterliche Depressionen zu verfallen. Wer sich Michel Houellebecqs Dankesrede «Europa steht vor dem Selbstmord» für die Verleihung des Frank-Schirrmacher-Preises antut, ist allerdings gut beraten, schon vor der Lektüre eine gute Flasche entkorkt zu haben.
Und wieder sabbert es zwischen den Zeilen
Noch nie ein Freund von Heiterkeit, ist das Pamphlet des französischen Intellektuellen je nach Standpunkt eine gnaden- oder eben schonungslose Abrechnung mit der «faiblesse de l’ouest». Was in «Soumission» noch mit schwarzem Humor beschrieben war, die schleichende Usurpation des französischen Lebensstils durch den Islam, ist nun zum düsteren Abgesang mutiert – auf die französische Linke, auf den Westen, auf Europa, auf unsere christlichabendländischen Werte.
Widerspruchsfrei ist wie gewohnt wenig; die scharfzüngige Polemik aber beherrscht der Kettenraucher meisterlich.
Wie schon bei «Elementarteilchen» sabbert es auch jetzt wieder zwischen den Zeilen. Wehmütig beklagt der Alternde das Verschwinden von Minirock und Sexyness aus den Pariser Strassen und das drohende Verbot der Prostitution in Frankreich (was – das sagt er – zur Vernichtung der Ehe und folglich zum Selbstmord als Gesellschaȑ führt). Die Ursache dafür ortet der Autor bei den Bärtigen, die wahre Schuld aber bei uns als Bürger Europas, weil wir zu schwach und zu feige sind, dem Treiben der Islamisten Einhalt zu bieten. Das sitzt, wenn auch alles andere als passgenau.
Wutschäumend und verantwortungsbefreit
Houellebecq folgt dem Zeitgeist – und dieser ihm. Der Untergang Europas wird inszeniert, süffig, pubertär und libertär, wutschäumend und laut mahnend. Vor allem aber verantwortungsbefreit. Hier produziert sich eine Generation als Richter über die Gegenwart, mit der satten Zufriedenheit, die letzten 50 Jahre in relativem Frieden und Prosperität verlebt zu haben.
Die Zukunft aber kümmert kaum, es sei denn, dass sie bitte schön gleich auszusehen hat wie das, was man als verloren beklagt. Werte, Tugenden, Sicherheit, Wohlstand – alles geht den Bach runter, nichts ist mehr wie zuvor. Politisch lässt sich daraus wunderbar Kapital schlagen. Donald Trumps Reden sind nicht deswegen so haarsträubend, weil sie vor Unwahrheiten strotzen, sondern weil sie ein apokalyptisches Bild Amerikas zeichnen.
Wer aber gibt eigentlich der Gegenwart Hoffnung? Wer der nachfolgenden Generation Kraft, sich den wahrlich grossen Herausforderungen zu stellen? Wer moderiert jene, die partout nicht fürchten, nicht hassen, nicht simplifizieren wollen? Wer gibt uns angesichts der Unordnung in dieser Welt wieder Struktur und Perspektiven?
Die Ärmel krempeln andere hoch
Houellebecq und seinesgleichen jedenfalls nicht. Ihre Zukunft endet jeweils bei der ego- und eurozentristischen Klage über den üblen Zustand der Gegenwart. Ihre Bühne ist die Artikulation von Ängsten, von Verlust. Sie maulen an der Seitenlinie über das Versagen der Politik, deren Teil sie selbst sind und von der sie lange profitiert haben.
Die Ärmel hochkrempeln tun andere: in den Kindergärten Sachsens bei der mühseligen Flüchtlingsintegration, bei der Bekämpfung des IS im Irak, bei der Suche nach Kompromissen in nächtelangen Sitzungen in Brüssel, Berlin oder Paris. Vieles ist nicht perfekt, einiges läuft schief, da hat Houellebecq schon recht. Aber er irrt, wenn er den steten Versuch verhöhnt.
Erstmals erschienen in der Sonntagszeitung vom 2. Oktober 2016.