Die Opfer waren noch nicht beerdigt, als die Diskussionen über Gründe, Ursachen und Verantwortung für die Bluttat von Berlin schon tobten. Einmal mehr stand und steht dabei die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel im Fokus. Wenn es nur so einfach wäre. «Kontrollverlust», das war in den letzten Tagen ein häufig verwendetes Wort im Zusammenhang mit dem Terroranschlag in Berlin. Merkels Flüchtlingspolitik, so eine Argumentation, habe in Deutschland erst die Terrorgefahr geschaffen. Denn potenziell sind Flüchtlinge auch Terroristen. Das ist dermassen plump, dass es schmerzt. Nur ist es potenziell auch nicht falsch, was es diskussionswürdig macht.
„Flüchtling“ ein, nicht das Täterprofil
Die Frage stellt sich, was denn alternativ passiert wäre, hätte Deutschland (und andere) im Spätsommer 2015 nicht relativ unbürokratisch die Menschenmassen aufgenommen, die sich vor den Grenzen stauten? Wären Terroristen nicht aktiv geworden? Wer solches bejaht, blendet die lange Blutspur aus, die der islamistische Terrorismus seit den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts quer durch die Welt zieht. Berlin ist nicht der erste Anschlag, der die Handschrift des IS trägt – und es wird leider auch nicht der letzte sein.
Es gab Fälle, wo sich die Täter aus Flüchtlingen rekrutiert haben; es gab Fälle, da handelte es sich um Eingebürgerte mit einschlägigem Migrationshintergrund. Und es gab Fälle, da griffen Einheimische zur Waffe. Kurzum: Ein Täterprofil «Flüchtling» ist kaum zu erkennen. Einem Muster ähnlich ist inzwischen nur, dass es sich überwiegend um jüngere Männer handelt, die zuvor meist nicht aufgefallen sind und offensichtlich eine Form der Radikalisierung durchlebt haben.
Anti-liberaler Reflex
Wer also von Kontrollverlust spricht und damit Flüchtlingspolitik meint, vermischt zwei Dinge, die vielleicht eine gewisse Schnittmenge haben, aber nicht kausal sind für das Phänomen des islamistischen Terrorismus. Oder glaubt Horst Seehofer im Ernst, dass der mutmassliche Täter von Berlin bei einer Grenzkontrolle seinen Pass präsentiert hätte und dem Beamten ins Gesicht sagt «Ich plane ein Attentat auf euren Weihnachtsmarkt»?
Diese Menschen handeln in der Regel nicht im Affekt; sie planen, sie sind instruiert, sie sind vorbereitet und sie führen aus. Und nicht selten hilft ihnen auch noch Schlendrian und Zufall, wie fehlende Betonpoller oder ein polnischer Sattelschlepper.
Es gehört zu den anti-liberalen Reflexen menschlicher Betroffenheit, bei jedem neuen Anschlag nach «Mehr!» zu rufen. Mehr Gesetze, mehr Kontrolle, mehr Prävention, mehr Härte, mehr Ausschaffung, mehr Polizei. Damit verbunden ist leider immer ein grosses «Weniger». Zuvorderst weniger Freiheit, denn sie steht in offenen Gesellschaften immer im Konflikt mit dem legitimen Bedürfnis nach Sicherheit von uns allen. Freiheit ist nie absolut. Wäre sie es, herrschte Anarchie. Wir alle wollen nicht Opfer eines amokfahrenden Terroristen werden.
Wirksame Waffen
Die Frage aber bleibt, wo die Grenze zu ziehen ist. Wer nach absoluter Sicherheit ruft, wird angesichts der potenziellen Bedrohung nicht umhinkommen, unseren Lebensstil umfassend zu überdenken. Wollen wir das? Oder ist es nicht vielmehr so, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, aber auch Respekt, Minderheitenschutz, Mitsprache und Meinungsfreiheit immer noch die wirksamste Waffe im Kampf gegen den Terrorismus sind?
Die Achtung vor den Opfern verbietet es, mit einem simplen Ja zu antworten. Nur kann «Krieg» auch keine Alternative sein. Denn wer diesen ausruft oder fordert, folgt der kruden Logik der Terroristen. Sie bomben und töten, weil sie doch genau eines provozieren wollen: den Kontrollverlust.
Erstmals publiziert in der Sonntagszeitung vom 25. Dezember 2016.