Die ersten Schockwellen zum Brexit sind verebbt. Die Entscheidung ist zu akzeptieren, denn wer sie in Frage stellt, stellt ein demokratisches Grundprinzip in Frage: Die Mündigkeit des Bürgers. Und für Europa muss das Verdikt gar nicht schlecht sein, ganz im Gegenteil.
Die Briten haben entschieden. Deutlich, wenn auch knapp. Sie wünschen die Scheidung, den Austritt aus der Europäischen Union. Das ist enttäuschend, weil eine Beziehung in Brüche geht, die beiden Seiten – den britischen Inseln und der Union – über Jahrzehnte unter dem Strich mehr Positives als Negatives gebracht hat.
Der Bürger ist kein Kleinkind
Aber es ist, wie es ist. Das Umdeuten eines demokratisch einwandfreien Ausgangs einer Volksbefragung schadet der Demokratie. Es geht nicht an, eine folgenreiche Entscheidung immer nur dann in Frage zu stellen, wenn das Ergebnis nicht gefällt. Das hatten wir schon mehrfach, u.a. auch auf europäischer Ebene. Und zu Recht wurde damals beim irischen Nein zu den Verträgen von Nizza das Verhalten der Eliten Europas kritisiert, solange den Spagat zu suchen, bis die schliesslich auch die Iren wieder an Bord waren.
Jene, die nun finden, die Briten hätten das vielleicht ja gar nicht so gemeint, sie seien in das Referendum gestrauchelt, ohne wirklich zu wissen, um was es geht, denen sei zugerufen: Genau diese Haltung schadet dem Projekt Europa, weil es die Bürger Europas auf die Stufe von Kleinkindern stellt. Wie oft ist in diesen letzten Jahren das Demokratiedefizit Europas beklagt worden? Wie oft ist mehr direkte Mitsprache in die Entscheidungsprozesse gefordert worden? Wie selten aber sind die Völker Europas – die Schweiz als Nicht-EU-Mitglied ist eine löbliche Ausnahme – zu den Urnen gerufen worden, um sich zum Projekt Europa und seinen Einzelaspekten zu äussern? Et voilà: Die Briten hatten die Chance, sie haben sie genutzt, und sie haben entschieden. Das mag von Cameron taktisch unklug gewesen sein; und es war politisch höchst kurzsichtig. Aber „hätte-hätte-Fahrradkette“ – es ist so geschehen. Agiert hat er als demokratisch gewählter Premierminister, nicht als Autokrat. Die Wähler wussten, was sie in ihm hatten. Und trotzdem haben sie ihm und seiner Partei vor Jahresfrist zu einer deutlichen Mehrheit verholfen.
Kein Untergang
Nun mag die Pointe nicht gefallen, das Verdikt vom 23. Juni 2016 aber ist zu akzeptieren. Ohne Drama, ohne Tamtam. Die Schönheit an der besten unter nur schlechteren Staatsformen ist, dass der Souverän Entscheidungen auch wieder umstossen kann. Man kann und man darf klüger werden. Solange der demokratische Prozess hochgehalten wird, ist daher die Zukunft immer wieder neu gestaltbar. Darum wäre etwas mehr Gelassenheit geboten; weder die Welt, noch Europa werden durch den Brexit untergehen.
Mag sein, dass der eine oder andere Brite nicht wusste, um welche Wurst es hier geht. Aber selbst wenn dem so wäre: Nicht nur Politiker, sondern eben auch wir Bürger stehen in der Pflicht, mit demokratischen Rechten sorgsam umzugehen. Wer ja oder nein zu einem Gegenstand sagt, ohne zu wissen, was das genau bedeutet, handelt fahr-, wenn auch zulässig. So gesehen trägt jede Mehrheit immer auch die Verantwortung für das, was sie einer Minderheit zumutet. Ob es im Falle des Brexit ein Segen oder eher ein Fluch sein wird, das wird erst die Geschichte zeigen. Und wenn es denn wirklich stimmen sollte, dass es vor allem die Älteren waren, die sich gegen Europa ausgesprochen haben, dann ist es ein Weckruf an die Jugend, aktiver als bisher für die eigenen Vorstellungen zu kämpfen.
Eine Scheidung mit Ansage
Und genau aus diesen Gründen ist auch nicht ganz nachvollziehbar, warum sich die Union nun auf „Teufel komm raus“ neu erfinden muss, weil ein Mitglied den Austritt wagt. Zumal zuerst zu klären wäre, was genau man damit bezwecken will – und wo genau denn was geändert werden sollte.
In Deutschland und in Skandinavien dürfte man darüber etwas anders denken als in Griechenland oder Spanien. Junge und Alte sind sich mutmasslich auch nicht einig, strukturstarke und –schwache Regionen sowieso nicht.
Ja, es gibt gravierende Probleme, ja es gibt wahrlich sehr viele Gründe, sich zu reformieren. Aber sicher nicht erst nach dem Ja der Briten zum Brexit am 23. Juni. Sondern aus eigenem Antrieb, etwas weiterzuentwickeln, das in vielem gut, in einigem schlecht funktioniert. Denn bezweifelt werden darf, dass es wirklich die akuten Probleme der EU waren, die den Ausschlag für den Brexit gaben. Die Briten waren weder Mitglied der Eurozone noch von Schengen; sie zeigten mit einigen wenigen aufgenommenen Syrer auch nicht unbedingt ein Übermass an Willkommenskultur bei der Lösung der Flüchtlingskrise. Das Königreich hatte für sich – Thatcher lässt grüssen – vor Jahren schon überdurchschnittlich gute finanzielle Konditionen erwirkt. Die Briten haben sich aber auch als Mikro-Atommacht und Nato-Gründungsmitglied immer schwer getan mit einer gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik der EU. Sie halten bis heute am nicht-metrischen System fest und fahren auf der „falschen“ Strassenseite. So gesehen sind die Briten immer schon spezieller gewesen als der grosse Rest Europas, was sie nicht schlechter, sondern einfach etwas distanzierter macht.
Nein, diese Scheidung kommt mit Ansage – es war dies nie eine Ehe der Liebe, sondern eine der Vernunft und der Opportunitäten. Der Austritt also ist ohne Wenn und Aber eine Zäsur für die Union, aber genau hier liegt auch die Chance. Es klärt eine letztlich schon länger belastete Beziehung und entlastet über Zeit ein Gebilde, das ja nicht von zu wenig, sondern durch möglicherweise zu viel Variation und Kompromisse so fragil und entscheidungsschwach geworden ist.
Wettbewerb der Modelle
Europa muss sich daher unabhängig von Bei- und Austritten einzelner Staaten weiterentwickeln, weil eine Union aus Nationalstaaten ohne ein Mindestmass an Integration und Vertiefung keinen Sinn ergibt im 21. Jahrhundert. Gefordert ist ein attraktives Gegenmodell zum Einzelstaat – was primär heissen wird, wirtschaftlich prosperierend zu sein und in einer globalisierten Welt für das Gros der Menschen innerhalb dieses Verbundes politische Stabilität und Sicherheit zu garantieren. Davon ist die Union derzeit noch weit entfernt. Und doch: Wer sich nüchtern vor Augen führt, wie der Kontinent bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges aussah, kann sich der Erkenntnis nicht verweigern, dass die Zusammenarbeit und die Integration von Staaten ein Segen für dieses Europa und seine Völker war und kein Fluch.
Die Briten haben nun für sich entschieden, ihr Heil wieder in der klassischen Einzelstaatlichkeit zu suchen – wie das die Schweiz seit jeher tut und dafür einen zunehmend höheren Preis bezahlt. Das ist zu akzeptieren, weil eben auf demokratischer Willensbekundung fussend. Ob sie dies fortan als „United Kingdom“ tun oder aber nur noch als England, wird sich weisen. Denn genauso die Briten nun mehrheitlich einer aus ihrer Sicht zu dominanten Integration Europas den Schuh gaben, werden sie sich selbst mit genau der gleichen Schonungslosigkeit der eigenen staatlichen Konstruktion widmen müssen. Die noch unter Tony Blair vor genau 20 Jahren ausgerufene „Devolution“ für Schottland und Wales hat die Basis für eine Loslösung von England mindestens von Schottland geschaffen, möglicherweise auch von Nordirland. So gesehen könnte sich der Brexit weniger als Spaltpilz für Europa als vielmehr für Grossbritannien erweisen.
Auch das muss nicht tragisch enden. Vielleicht ist es ein wegweisender erster Schritt zu einem Europa, das sich nicht mehr entlang klassischer Nationalstaaten konstituiert, sondern aus Regionen und Kulturräumen, aus einer logischen Entwicklung pseudo-nationalstaatlicher Gebilde, die aber einzeln zu schwach sind und daher im Verbund Souveränität ausüben. Daneben mag es andere Formen der Kooperation geben, auch den klassisch souveränen Einzelstaat. Es wäre ein Wettbewerb der Konzepte und Modelle, der – solange er friedlich ausgetragen wird – eine Bereicherung darstellen würde.
Noch mag das utopisch sein, und ja, zunächst muss nun ein Austritt aus der EU organisiert und möglichst schadensminimiert abgewickelt werden. Aber so wie dieser Klub in den letzten Jahrzehnten zig Beitritte bewältigt hat, wird nun auch das Umgekehrte machbar sein. Die rechtlichen Voraussetzungen sind in den Lissabonner Verträgen richtigerweise geschaffen worden. Es geht dabei gar nicht darum, den Briten eins auszuwischen, ganz im Gegenteil – es wäre töricht, weil es die Attraktivität der EU eher mindert als es sie befördert. Nein, Grossbritannien soll am Projekt Europa weiter teilhaben, wenn auch unter anderen Bedingungen, genauso wie das die Schweiz tut, Norwegen oder vielleicht eines fernen Tages sogar die Türkei. Denn auch das gehört zur europäischen Idee, als Stärke wie als Schwäche: Vielfalt zuzulassen und dennoch im Verbund geeint zu sein.
Letztlich ist genau das die zentrale Existenzberechtigung für ein in Frieden vereintes Europa: Die Erkenntnis, dass die Konzepte des 19. Jahrhunderts nicht mehr reichen, um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern.