Das Votum der Briten, die EU zu verlassen, hat auch Konsequenzen für die Schweiz und die Verhandlungen mit Brüssel. Einige Trümpfe, die man in den Händen zu halten glaubte, stechen nicht mehr. Einer davon ist der Faktor Zeit. Einmal mehr setzt sich die Schweiz aussenpolitisch selbst unter Druck.
Die Schweiz ist Spitze. In vielem. In einem ist sie schwach. Sie schafft es einfach nicht, auf internationalem Parkett strategisch zu agieren. Da ist selten Entwurf, dafür zu oft Hadern und Zwietracht. Statt Weitsicht dominiert die Nabelschau. Und da es ein Wohlstandsbauch ist, gibt es viel zu schauen.
Munteres Potpurri
Das war so bei der Bereinigung der nachrichtenlosen Vermögen. Auch beim Nein zum EWR oder bei jenem zum automatischen Informationsaustausch. Bei der Verteidigung des Bankkundengeheimnisses oder in der Europa-Frage.
Welche Überraschung, dass nun Bundesbern auch die Leave-Entscheidung der Briten auf dem falschen Fuss erwischt. Klärende Worte jedenfalls hat man in den letzten zehn Tagen nicht vernommen, ganz im Gegenteil: Es ist ein munteres Potpourri aus eher Banalem («viele Fragezeichen»), Absurdem («Die EU ist auf dem Weg zur Diktatur»), Hoffnung («Die Schweiz kann profitieren»), Trotz («vorbehaltlos den bilateralen Weg gehen»), Coolness («ich bin immer noch optimistisch»), Utopien («Die Lösung heisst Eȑa»), Rechthaberei («einseitige Schutzklauseln sind zulässig») und Juristenfutter («einseitige Schutzklauseln sind nicht zulässig»).
Dabei ist das Problem hausgemacht, gar nicht fremdbestimmt, sondern gutschweizerisch demokratisch entstanden: Wie setzen wir die Masseneinwanderungsinitiative der SVP innerhalb von drei Jahren um? Die Briten werden uns dabei sicher nicht helfen, übrigens auch nicht husch, husch die Efta, wo die Schweiz unter vieren (Norwegen, Island, Liechtenstein) als Einzige nicht dem EWR angehört. Sinnigerweise ist man nach dem britischen Votum noch mehr Randerscheinung in diesem Europa, weil es eben gerade nicht um die Schweiz und ihren Nabel geht, sondern um ein Königreich mit Weltmachtskoller.
Brüder im Herzen – wirklich?
Rührend ist daher, wie gewisse Politiker (weshalb eigentlich kaum ein Unternehmer?) plötzlich die vielen Gemeinsamkeiten betonen zwischen Union Jack und Schweizer Kreuz, als wäre man Brüder im Herzen beim Kampf um die Freiheit. Mir erschliesst sich das nicht, genauso wenig ich wahnsinnig viele Gemeinsamkeiten sehe – ausser Roy Hodgson, gewesener Trainer beider Nationalteams, bekanntlich aber nicht übermässig erfolgreich. Einmal davon abgesehen, dass da auch noch Schotten, Nordiren und Waliser wären, die weder mit den EU-skeptischen Engländern noch mit dem Nicht-EU-Mitglied Schweiz übertriebene Nähe suchen.
Und so tickt die Uhr, unerbittlich. Inzwischen pfeifen es auch die ganz fetten Spatzen von den Dächern: Eine einvernehmliche Lösung mit der EU, die kompatibel wäre mit der Personenfreizügigkeit und damit den bilateralen Verträgen, wird bis zum verfassungskonformen Stichtag 9. Februar 2017 wohl nicht mehr zu erzielen sein.
Die Schweiz aber benötigt den Marktzugang zu den wichtigsten Handelspartnern; und diese liegen überwiegend in Europa. Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr ausländische Fachkräfte, weil wir selbst mit Inländervorrang und Frauenquoten den Bedarf nicht selbst decken können. Und weil wir keinen anderen Rohstoff als unsere Bildung haben, ist eben auch eine global vernetzte Forschung und Entwicklung essenziell.
Wir aber beäugen seit 29 Monaten unseren Nabel und wundern uns, dass dieser niemanden interessiert.
Erstmals am 3. Juli in der Sonntagszeitung erschienen.