Es herrscht Krieg. Und wir sind Teil davon. Wir – der Westen, Europa, Paris. Nicht erst seit dem 13. November 2015, an dem über die Stadt der Liebe innert weniger Stunden so viel Leid und Trauer hereinbrach.
Die offenkundig sorgfältig geplanten und koordiniert an sechs Orten durchgeführten Anschläge in Paris sind ein weiterer Beweis dafür, dass der Kampf gegen den islamistischen Terror weder gewonnen noch auf die Region des Nahen Ostens und den Maghreb begrenzt ist. Terrorismus ist wie eine Krake, deren Arme sofort nachwachsen, ist eine Tentakel abgeschlagen. Der Terror ist eine raffinierte und gleichzeitig teuflische Kommunikationsstrategie. Er ist in Form der islamistischen Gewalt schon länger nicht mehr nur darauf ausgelegt, den Gegner präzise zu treffen, wie dies bei der Attacke gegen das Satire-Magazin Charlie Hebdo im Januar der Fall war. Sondern die Täter schlagen auch immer wieder möglichst unberechenbar, grobflächig und spektakulär zu – wie damals bei 9/11, in Madrid, in London, jüngst in der Türkei und nun in Paris. Der Effekt heiligt den Zweck, nicht das Ziel. Und so sind es denn vor allem Zivilisten, Menschenmengen, symbolträchtige Objekte und vordergründig als sicher geltende Orte, die angegriffen werden.
Den Krieg dorthin bringen, wo Frieden herrscht
Die Täter tragen verschiedene Gesichter; nicht wenige leben seit Jahren unter uns, sind Mitbürger in einer aufgeklärten, post-industrialisierten Wohlstandsgesellschaft, ja partizipieren sogar an den Früchten wenig limitierter Freiheit und Freizügigkeit, bis sie dann dem Nihilismus verfallen. Andere reisen lange Wege, aus einem Kriegsgebiet ins nächste – um schliesslich Krieg dorthin zu bringen, wo eigentlich Frieden herrscht.
Die Motive der Täter aber sind vergleichbar: Sie schützen Rache vor, die ihnen angeblich zusteht – für erlittenes Unrecht, das ihnen der dekadente Westen seit Jahrhunderten zumutet in Form wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Unterdrückung durch Herrschaftssysteme, die am Rockzipfel dieses Westens hängen. Und sie sehen in ihrer Gewalt eine berechtigte Reaktion auf die Drohnen und Hellfire-Raketen, die der verhasste Gegner fern der mondänen Boulevards von Paris, den glitzernden Wolkenkratzern New Yorks und der lieblichen Landschaften Kents gegen die eigenen Brüder und Schwestern in den Weiten des Hindukusch, in den Wüsten Jemens oder in den syrischen Kriegsgebieten einsetzt.
Sich der eigenen Knechte entledigen
Man sollte diese Beweggründe Ernst nehmen, was nicht heisst, sie gutzuheissen. Aber es ist ein Faktum, dass der Westen – allen voran die USA und historisch noch bedeutsamer die Briten und Franzosen – in der arabischen Welt über lange Zeit eine fatale Rolle gespielt haben. Diese schonungslos zu benennen und aus vormaligen Fehlern die richtigen Schlüsse zu ziehen, täte ungebrochen Not.
Die Entwicklungen der jüngeren Zeit, sei es im Irak, in Afghanistan, in Ägypten, in Saudi-Arabien, in Libyen oder in Syrien, geben freilich wenig Anlass zur Hoffnung, dass aus historisch gereifter Erkenntnis eine bessere, weil weniger zynische Politik entstehen könnte. Und so nährt sich der Terrorismus weiterhin am Versagen des Westens, den Gesellschaften des Nahen Ostens eine glaubwürdige Perspektive zu bieten, wie sie das eigene, hausgemachte Unvermögen überwinden und in eine friedlichere Zukunft aufbrechen könnten.
Denn es wäre in erster Linie die Verantwortung der Völker in der Region, sich der eigenen Knechte zu entledigen. Auch und vor allem jener, die sich im Gewand eines regressiven Islam-Verständnisses als religiös erhaben und daher legitimiert fühlen, Anders- und Nichtgläubige, westlichen Lebensstil, Freiheiten und Menschenrechte mit roher Gewalt zu zerstören.
Wenn es denn eine Dekadenz gibt, so ist es diese. Sie zu benennen läge auch in der Pflicht von Muslimen, die für sich in Anspruch nehmen, für eine konservative Gesellschaftsform zu kämpfen, dies aber strikt nur mit friedlichen und demokratischen Mitteln.
Und es wäre auch an solchen Kreisen, laut und vernehmlich das Recht der Pariserinnen und Pariser zu verteidigen, sich ohne Angst vor Tod und Verwundung an einem lauen Novemberabend ein Freundschaftsländerspiel zwischen einstigen Kriegsgegnern anzusehen, auf den Terrassen der Boulevardscafés ein Bier zu trinken und einer Death-Metal-Band zu zujubeln, die den Teufel besingt.
Keine Plattform zur Selbstinszenierung
Mutmasslich hatte Paris am Freitagnacht noch Glück: Nicht auszumalen, was passiert wäre, hätten es die Selbstmordattentäter vor dem Stade de France geschafft, in das vollbesetzte Stadion einzudringen. Nicht nur wären zig Tausend Menschen bedroht gewesen. Unzählige Fernsehkameras wären live zugeschaltet gewesen. Es hätte ein medial perfekt inszeniertes Massenmorden stattgefunden.
Es ist müssig, darauf hinzuweisen, dass es eine Strategie im Kampf gegen den Terrorismus sein muss, ihm keine Plattformen zur Selbstinszenierung zu bieten. Man kann Mord und Totschlag nicht verschweigen. Man soll es auch nicht, allein schon aus Respekt vor den Opfern.
Aber gleichzeitig müssen wir als freie Gesellschaften alles daran setzen, uns unseren Lebensstil nicht durch rohe Gewaltakte zerstören zu lassen. Man mag diesen als dekadent empfinden, ihn ablehnen, ja ihn sogar hassen. Aber es ist das Recht jedes freien Bürgers, ihn zu leben im Rahmen der verfassungsrechtlichen Normen. Gewalt dagegen ist ein Verbrechen.
Dieses als solches zu benennen ist das eine. Ein anderes ist, mit aller Härte des demokratisch legitimierten Rechtsstaates gegen jede Form von Gewalt vorzugehen. Ein drittes aber ist, sich nicht einschränken zu lassen. Es darf nicht sein, dass sich die krude Botschaft der Attentäter in unseren Köpfen festsetzt, dass wir ständig bedroht sind. Angst ist das Gift, dass diese Menschen uns verabreichen wollen. Das beste Gegenmittel heisst: Wir lassen uns nicht einschüchtern. Niemals.
Nous sommes Paris!
Anbei ein Gespräch mit dem IS-Experten der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, Guido Steinberg, das mein Kollege Marco Färber und ich 2014 für die TV-Sendung „NZZ Standpunkte – Zwei Journalisten, ein Gast“ produziert haben. Es beleuchtet das Innenleben der Organisation, ihre Motive und die Dimensionen ihres Herrschaftsanspruchs. Das Copyright liegt bei der NZZ.