Der rasante Aufstieg der rechtsnational politisierenden Alternative für Deutschland hat vor allem einen Grund: Die Flüchtlingspolitik der Regierung Merkel. Würde die Kanzlerin ihren Kurs ändern, verlöre der Protest wohl rasch an Potenz. Warum ich das trotzdem keine gute Idee finde; erstmals publiziert in der Sonntagszeitung.
Wahlen sind ein wenig wie Fernsehschauen. Gefällt das Programm nicht, wird weitergezappt. Die Sendung «Merkel», ausgestrahlt von der CDU, gefällt einigen in Deutschland nicht mehr. Sie haben am letzten Sonntag in drei Bundesländern nicht ganz überraschend auf die Alternative für Deutschland (AfD) umgeschaltet. Diese Partei sendet auf ihrem Kanal sehr viel einfachere Kost, und auch thematisch dominiert der Einheitsbrei. Doch es ist dieser Inhalt, der derzeit Quoten bringt – man mag offenkundig lieber «Zwei Preuss’n auf der Alm» statt «Lawrence of Arabia».
Merkel soll nicht Mutter Teresa Europas spielen
Weitere Wahlschlappen liessen sich nur vermeiden, wenn die deutsche Kanzlerin ihren bisherigen Kurs in der Bewältigung der Flüchtlingskrise aufgebe, schallt es nun mehrstimmig. Oder wie es eine deutsche Tageszeitung pointierter formulierte: wenn sie sich nicht mehr als Europas Mutter Teresa kapriziere.
Ich gestehe, ich mag die Sturheit der Kanzlerin. Und ich gestehe auch, dass ich ihren bisherigen Kurs in Sachen Flüchtlingskrise für deutlich weitsichtiger halte als fast alles, was andere EU-Mitgliedsstaaten tun, bei aller Detailkritik und Skepsis über einzelne Entscheidungen. Dieser Kurs mag realpolitisch unklug sein, weil er Stimmen kostet und gesellschaftlich nicht unproblematisch ist. Und zugegebenermassen kann sich die Standfestigkeit bis zur Schmerzgrenze auch nur eine Regierungschefin leisten, die im Zenit ihrer politischen Karriere steht und nichts mehr gewinnen muss. In vielen Regierungssitzen Europas gilt so ziemlich das Gegenteil: von politischem Zenit keine Spur, dafür grosse Angst vor der nächsten Niederlage.
Merkel ficht das nicht an. Sie macht dieser Tage Politik im besten Sinne – verstanden als ein Verhalten, das darauf abzielt, Probleme über Zeit zu lösen, ohne neue und grössere zu schaffen. Da stehen nicht mehr die Wiederwahl und der persönliche Glanz im Fokus, sondern die Bewältigung von grossen Herausforderungen über die Legislaturperioden hinweg. Entsprechend gering ist die Bereitschaft dieser Frau, sich vor dem politischen Gegner zu verbiegen.
Mehr Parteien, mehr Profil, mehr Auswahl
Nun kann man füglich darüber streiten, ob Merkel das Richtige tut. Sich aber anzubiedern an den Kurs einer Partei, die sich ausschliesslich durch den Protest definiert, etwa mit einer Flüchtlingsobergrenze oder Grenzzäunen, führt nicht zu mehr, sondern zu noch weniger Vertrauen beim Bürger.
Die deutsche Parteienlandschaft bekommt mehr Farbe, was das «Durchregieren» schwieriger und die Koalitionsbildung filigraner macht. Das ist ungewohnt, mag unangenehm sein – aber eine Gefahr für Demokratie und Vaterland ist es vorläufig sicher nicht. Ganz im Gegenteil: In Deutschland, wie auch in anderen europäischen Ländern, entstehen links wie rechts neue Protestparteien, die einen Teil jener Kräfte sammeln, die bisher mit der Faust im Sack trotzig zu Hause vor dem Fernsehen sassen und schwarz gesehen haben.
Die AfD gibt ihnen ein Gesicht, genauso wie vor Jahren die Linke oder die Piraten. Das zwingt die sogenannt etablierten Parteien zur Schärfung ihres Profils. Für die Wahlberechtigten ist das aber kein Fluch, sondern ein Segen – denn so entstehen Auswahl und Wettbewerb.
Wegzappen lässt sich die Flüchtlingskrise nicht
«Politikwechsel» wäre nur dann angebracht, wenn er zur Problemlösung beitrüge. Das Problem aber ist nicht in erster Linie der Wahlerfolg der AfD oder die schwindende Beliebtheit einer Kanzlerin, sondern wie mit Abertausenden von Flüchtlingen vor den Toren Europas in einer menschenwürdigen und gesellschaftlich verkraftbaren Weise umzugehen ist.
Und wir alle wissen sehr genau: Wegzappen lässt sich dieses Thema nicht.