Der Nationalrat setzt für die Umsetzung des Verfassungsartikels zur Beschränkung der Einwanderung auf den „Inländervorrang light“. Damit ändert sich faktisch nichts an der bisherigen Praxis bei der Zulassung ausländischer Arbeitskräfte. Das Ergebnis ist mit Blick auf die Beziehungen mit der EU folgerichtig. Wäre da nicht ein Manko: Der Souverän hat in die Verfassung etwas völlig anderes geschrieben.
Angetreten war der Bundesrat forsch am Reck, dann am Schwebebalken. Doch weder Klimmzug noch Balanceakt wollten ihm bei der inhaltsgetreuen und trotzdem EU-kompatiblen Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative gelingen. Geendet hat das Ganze nun als Spreizsprung im Tutu, vorgeturnt vom Parlament. Elegant ist anders.
Törichste politische Turnübung
Ich halte die Initiative für eine der törichsten politischen Turnübungen der jüngeren Vergangenheit, notabene von einer Partei vorexerziert, die sich angeblich für Unternehmertum und eine liberale Wirtschaft starkmacht. Liberal ist an dieser Vorlage gar nichts. Sie hat der Schweiz Rechtsunsicherheit beschert und Firmen dazu gezwungen, sich in einem ohnehin sehr kompetitiven Umfeld nach Alternativen umzusehen.
Im Forschungsbereich sind die Folgen bereits messbar. Der Anteil der Schweizer Beteiligungen an EU-Forschungsprojekten hat sich innert Jahresfrist halbiert. Gleiches gilt für die Mitfinanzierung von hiesigen Forschungsprogrammen durch die EU.
Späte Schadensbegrenzung
So gesehen ist das, was der Nationalrat verabschiedet hat, späte Schadensbegrenzung. Taktisch raffiniert, im Ergebnis richtig, aber mit einem schweren Manko: Eine Mehrheit des Stimmvolkes hat am 9. Februar 2014 etwas anderes entschieden – nämlich die eigenständige Steuerung der Zuwanderung mittels Höchstzahlen und Kontingenten.
Fast drei Jahre später soll der Status quo ante fortgeschrieben werden, wenn er auch um einen fürchterlichen Technokratenbegriff reicher geworden ist: «Inländervorrang light». Man könnte auch von einer «Masseneinwanderungsbeschränkung zero» sprechen.
Was ist nicht alles herumgeboten worden: eine Wiederholung der Abstimmung, Kontingente, einvernehmlich oder dann halt einseitig ausgerufene Schutzklauseln, geografische und sektorielle Beschränkungen, Förderungen des heimischen Fachkräftepotenzials, Massnahmen gegen Lohndumping und solche zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Man reiste durch den Gotthard, nach Brüssel und bis nach Ulan Bator, im «wishful thinking», die EU werde sich schon kompromissbereit zeigen. Tat und tut sie aber nicht.
Chiffre für eine Politik, die Verdruss bereitet
Nun plötzlich ist das Ei des Kolumbus ausgebrütet. Wir ändern einzig den Informationsprozess über offene Stellen, ansonsten bleibt – vorerst – alles gleich. Politik ist immer die Kunst des Mach- auf der Grundlage des Wünschbaren. Aber sie sollte trotzdem ein Mindestmass an Redlichkeit behalten. Geht diese verloren, punkten nur die Populisten. Mit der nachvollziehbaren Frustration von jenen, die sich als demokratisch legitimierte Sieger wähnten. «Inländervorrang light» steht daher auch als Chiffre für eine Politik, die Verdruss provoziert.
Die Schweiz kennt auf Bundesebene keine Verfassungsgerichtsbarkeit. Darauf sind wir stolz, weil nicht Gerichte Politik machen sollen, sondern das Parlament. Das bedingt aber im Gesetzgebungsprozess den pragmatischen Ausgleich zwischen Siegern und Verlierern. Diesen haben weder Bundesrat noch die Gegner der Initiative und schon gar nicht die SVP zustande gebracht.
Darum führt kein Weg daran vorbei, nochmals das Volk zu befragen. Denn es ist zuvorderst die Verantwortung von uns als Bürgerinnen und Bürger, wie wir mit der Distanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit umgehen wollen. Mit Dehnübungen punktet man einfach nicht.
Erstmals erschienen in der Sonntagszeitung am 25. September 2016.