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Der Nationalrat setzt für die Umsetzung des Verfassungsartikels zur Beschränkung der Einwanderung auf den „Inländervorrang light“. Damit ändert sich faktisch nichts an der bisherigen Praxis bei der Zulassung ausländischer Arbeitskräfte. Das Ergebnis ist mit Blick auf die Beziehungen mit der EU folgerichtig. Wäre da nicht ein Manko: Der Souverän hat in die Verfassung etwas völlig anderes geschrieben.

Angetreten war der Bundesrat forsch am Reck, dann am Schwebebalken. Doch weder Klimmzug noch Balanceakt wollten ihm bei der inhaltsgetreuen und trotzdem EU-kompatiblen Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative gelingen. Geendet hat das Ganze nun als Spreizsprung im Tutu, vorgeturnt vom Parlament. Elegant ist anders.

Törichste politische Turnübung

Ich halte die Initiative für eine der törichsten politischen Turnübungen der jüngeren Vergangenheit, notabene von einer Partei vorexerziert, die sich angeblich für Unternehmertum und eine liberale Wirtschaft starkmacht. Liberal ist an dieser Vorlage gar nichts. Sie hat der Schweiz Rechtsunsicherheit beschert und Firmen dazu gezwungen, sich in einem ohnehin sehr kompetitiven Umfeld nach Alternativen umzusehen.

Im Forschungsbereich sind die Folgen bereits messbar. Der Anteil der Schweizer Beteiligungen an EU-Forschungsprojekten hat sich innert Jahresfrist halbiert. Gleiches gilt für die Mitfinanzierung von hiesigen Forschungsprogrammen durch die EU.

Späte Schadensbegrenzung

So gesehen ist das, was der Nationalrat verabschiedet hat, späte Schadensbegrenzung. Taktisch raffiniert, im Ergebnis richtig, aber mit einem schweren Manko: Eine Mehrheit des Stimmvolkes hat am 9. Februar 2014 etwas anderes entschieden – nämlich die eigenständige Steuerung der Zuwanderung mittels Höchstzahlen und Kontingenten.

Fast drei Jahre später soll der Status quo ante fortgeschrieben werden, wenn er auch um einen fürchterlichen Technokratenbegriff reicher geworden ist: «Inländervorrang light». Man könnte auch von einer «Masseneinwanderungsbeschränkung zero» sprechen.

Was ist nicht alles herumgeboten worden: eine Wiederholung der Abstimmung, Kontingente, einvernehmlich oder dann halt einseitig ausgerufene Schutzklauseln, geografische und sektorielle Beschränkungen, Förderungen des heimischen Fachkräftepotenzials, Massnahmen gegen Lohndumping und solche zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Man reiste durch den Gotthard, nach Brüssel und bis nach Ulan Bator, im «wishful thinking», die EU werde sich schon kompromissbereit zeigen. Tat und tut sie aber nicht.

Chiffre für eine Politik, die Verdruss bereitet

Nun plötzlich ist das Ei des Kolumbus ausgebrütet. Wir ändern einzig den Informationsprozess über offene Stellen, ansonsten bleibt – vorerst – alles gleich. Politik ist immer die Kunst des Mach- auf der Grundlage des Wünschbaren. Aber sie sollte trotzdem ein Mindestmass an Redlichkeit behalten. Geht diese verloren, punkten nur die Populisten. Mit der nachvollziehbaren Frustration von jenen, die sich als demokratisch legitimierte Sieger wähnten. «Inländervorrang light» steht daher auch als Chiffre für eine Politik, die Verdruss provoziert.

Die Schweiz kennt auf Bundesebene keine Verfassungsgerichtsbarkeit. Darauf sind wir stolz, weil nicht Gerichte Politik machen sollen, sondern das Parlament. Das bedingt aber im Gesetzgebungsprozess den pragmatischen Ausgleich zwischen Siegern und Verlierern. Diesen haben weder Bundesrat noch die Gegner der Initiative und schon gar nicht die SVP zustande gebracht.

Darum führt kein Weg daran vorbei, nochmals das Volk zu befragen. Denn es ist zuvorderst die Verantwortung von uns als Bürgerinnen und Bürger, wie wir mit der Distanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit umgehen wollen. Mit Dehnübungen punktet man einfach nicht.

Erstmals erschienen in der Sonntagszeitung am 25. September 2016.
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Sag schön Danke!: Bald ist Weihnachten. Zeit, an Geschenke zu denken. Es gilt, den Nächsten Freude zu bereiten. Der uns allernächste allerdings sind wir selbst. Was Schenken etwas relativiert.  Schenken bereitet Freude – heisst es. Fragt sich nur, für wen. Bob Dylan tat sich bekanntlich etwas schwer, die seinige zu zeigen, als er als Erster seiner Zunft mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Sein langes Schweigen, ob er das Geschenk annehmen wolle, wurde ihm postwendend als unhöflich und arrogant ausgelegt. «Sag schön Danke!» bläuen wir unseren Kindern schon früh im Leben ein. Vielleicht hat der singende Lyriker diese Benimmstunde geschwänzt, oder aber er fand zunächst schlicht nicht die richtigen Worte, zu verdanken, was er vielleicht gar nicht wünschte, je zu erhalten.

Abhängigkeiten bewirtschaften

Schenken ist bestens erforscht, kulturgeschichtlich, soziologisch, psychologisch, verhaltensökonomisch. Einig scheint man sich, dass es meist weniger um das Glück dessen geht, der beschenkt wird, als vielmehr um das des Schenkenden. Denn wer schenkt, will auch sich selbst einen Gefallen tun, sei es, weil es einzahlt auf das eigene Wohlbefinden, weil es der Reputation dient, grosszügig zu erscheinen, weil es Macht demonstriert, es Abhängigkeiten bewirtschaftet, Bindung festigt oder künftiges Verhalten konditioniert. Wer je eine Hochzeitsfeier in Indien miterlebt hat, weiss um die Opulenz der Feste und die für die Brauteltern nicht selten ruinöse Ausgestaltung der Mitgift, die dem Bräutigam und dessen Familie zusteht. Es ist Ausdruck einer bis heute in ganz Südasien immer noch dominierenden Geschlechtervorstellung: Männer sind mehr wert als Frauen, ihre Vermählung – ob arrangiert oder nicht – ein «Akt der Grosszügigkeit» der Gattenfamilie. Da diese Masslosigkeit genau deswegen seit Jahrzehnten gesetzlich verboten ist, wird der üppige Segen als Geschenk deklariert. Bei den Potlatch-Festen der nordamerikanischen Indianer im 18. und 19. Jahrhundert wiederum wurden regelrechte Schenkwettbewerbe zwischen den Stämmen ausgetragen, die faktisch das materielle Ausbluten des «Gegners» zum Ziel hatten. In Kanada waren solche Orgien zeitweise ebenfalls verboten.

Das Danke besiegelt den Kontrakt

Im Grunde ist der Akt des Schenkens eine Form des informellen Vertragsschlusses: Ich gebe, du nimmst. Was im Kleingedruckten steht: Und irgendwann wiederum gibst du dann mir. «Do ut des» eben. Das «Danke» ist das Einverständnis, diesen Kontrakt über Zeit mit allen ungeschriebenen Fussnoten einzugehen. Wer weiss, vielleicht hat Dylan diese Logik blitzschnell durchschaut und den Spiess einfach umgedreht: «Das Komitee soll dankbar sein dafür, dass es mit meiner Person nobel wirken darf.» Sollten Sie diesen Text also gerade lesen, wenn Sie in der Not des Verzweifelten irgendwo im Dickicht des nie schlafenden Konsumdschungels nach Schenkbarem jagen, denken Sie an Dylan! Wollen Sie schenken, oder wollen Sie ein Dankeschön? Und wie werden Sie reagieren, wenn dieses ausbleibt, weil die Beschenkte den Kontrakt wittert, der mit dem teuren Parfum, dem Diamantencollier, dem Malediven-Trip oder etwas profaner dem guten Wein verbunden ist? Und sind Sie überhaupt sicher, dass Sie die längerfristige Verpflichtung suchen? Wenn Sie zögern, schenken Sie diese Weihnachten dem erwachsenen Gegenüber (keine Angst, liebe Kinder – ihr bekommt die Drohne, das Lego, die Xbox) vielleicht besser «nur» Zuneigung, Respekt und ein offenes Ohr. Ohne Erwartungen, quasi ergebnisoffen. Und summen Sie dazu leise «Blowin’ in the Wind».
Erstmals in der Sonntagszeitung vom 18. Dezember 2016 erschienen.
2016-12-18 | Weiterlesen
Stirbt das Unternehmertum?: Was begründet eigentlich den Reichtum der Schweiz? Unter anderem der Pioniergeist und der Mut zum Unternehmertum. Doch auch wenn die Lage rosig erscheint, es gibt dunkle Wolken am Himmel. Grund genug, sich in einer kontradiktorischen Debatte darüber zu streiten, wo genau der Schuh drückt. Unternehmertum und Pioniergeist haben dieses Land und seine Bevölkerung reich gemacht. Doch dieser Erfolg ist nicht garantiert; er muss immer wieder hart erkämpft und verteidigt werden. Die grösste Bedrohung ist dabei nicht der globale Wettbewerb oder die Frankenstärke, sondern der Verlust an liberalen Prinzipien in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Ausdruck dafül3f8sc9lhygqm3a5ngp7rgmrnqqsn70y-2r ist unter anderem die ungebändigte Lust zur Regulierung, Normierung, Standardisierung. Belegt die Schweiz in fast allen Vergleichen immer wieder Spitzenplätze, im Bereich der regulatorischen Eingriffe fällt sie zurück. Tun wir also genug für das Unternehmertum in diesem Land? Oder droht es gar, unterzugehen? Wie attraktiv ist es eigentlich noch, in der Schweiz ein eigenes Unternehmen zu gründen, zu übernehmen oder zu führen? Wie gehen wir um mit einer Gesellschaft, die für jedes Problem nach staatlicher Lösung ruft? Am 21. September wurde dazu auf Einladung des StrategieDialogs21 in den Hallen des Alten Tramdepots Burgenziel in Bern zum ersten Maldas neu entwickelte Debattenformat „Challenge 21“ durchgeführt, bei dem jeweils vier Persönlichkeiten ganz unterschiedlicher Positionierung während exakt 60 Minuten verbal die Klingen kreuzen. himh5u5q9ggln37fc7dokuqqk04yp4fw-1Vor rund 120 renommierten Gästen der Schweizer Wirtschaft diskutierten unter der Leitung von Markus Spillmann der CEO der Swatch Gruppe, Nick Hayek, die Präsidentin der Gewerkschaft Unia, Vania Alleva, der Leiter der Direktion Arbeit beim Seco, Boris Zürcher, und der Präsident der Swiss Startup Association, Urs Häusler, über Mass und Masshalten etwa im Bereich des Arbeits- und Sozialschutzes, über den Perfektionismus der Verwaltung bei der Durchsetzung von Normen oder die Partikularinteressen der Wirtschaft, wenn es um die Absicherung von Besitzstand einzelner Branchen geht. Die Debatte verlieft sehr engagiert und kontrovers, pointiert und unterhaltsam, aber immer sachlich. Einig war man sich am Ende mit dem Publikum zumindest in einem Punkt: Die Schweiz braucht mehr, nicht weniger Unternehmertum.  
2016-09-23 | Weiterlesen
Am Gotthard mit Donald Trump: Freihandel stärkt den Wohlstand. Der Widerstand gegen eine weitere Handelsliberalisierung aber nimmt weltweit zu, allen voran in Europa und in den USA. Im Zuge einer generellen Globalisierungsskepsis haben es bilaterale Abkommen wie TTIP, TTP oder CETA schwer. Auf multilateraler Ebene im Rahmen der WTO geht seit längerem nichts mehr. Das sind düstere Aussichten für die Habenichtse dieser Welt.   Diesen Sommer bin ich durch die Schöllenen gefahren. Vorbei an Teufelsbrücke und Suworow-Denkmal, über den Gotthardpass in Richtung Süden. Und da musste ich an Donald Trump denken.

Protektionismus ist salonfähig

Der Republikaner ist zwar noch weniger populär ist als die rekordverdächtig unpopuläre Hillary Clinton, aber in einem trifft er den Nerv der Zeit und vieler seiner Landsleute: „America first“. Das Transpazifische Partnerschaftsabkommen TTP, das Washington mit elf Pazifik-Anrainerstaaten im letzten Herbst unterzeichnet hat, sei – Zitat – eine „Vergewaltigung der Nation“. Das Nordatlantische Freihandelsabkommen mit Kanada und Mexiko, seit mehr als 20 Jahren in Kraft, findet er das „schlechteste in der Geschichte der USA“. Und logisch wettert der Blondschopf auch gegen TTIP, über das die EU derzeit mit Washington verhandelt. Da mag die Gegenseite nicht zurückstehen. Hillary Clinton hat in Anlehnung an ihren internen Widersacher Bernie Sanders ebenfalls einen deutlich protektionistischen Ton angeschlagen. Beide buhlen um die Stimmen jener, die in der Abschottung eine Verheissung für persönlichen Wiederaufstieg und als Schutz vor globalen Wettbewerb sehen. Nun stehen auch in Frankreich Wahlen an, dann in Deutschland und später in Österreich. Und so wird statt offenen Grenzen und dem Abbau von Handelshemmnissen hüben wie drüben dem nationalen Wirtschaftsprotektionismus das Wort geredet.

Ein leiser Tod

De-Globalisierung ist chic, nicht nur bei der Linken, die immer schon Zweifel am freiem Handel äusserte, sondern auch bei der Rechten. Ob AfD oder FPÖ, ob Sozi oder Republikaner – hier reicht man sich parteiübergreifend und transatlantisch gerne die Hand. Und so stirbt sie leise, aber sie stirbt: Die Überzeugung, dass freier Handel der Wohlstandsmehrung dient und über alles betrachtet keine Pest, sondern vielmehr Segen ist. Schon länger gilt das für die multilaterale Ebene der WTO: Die 2001 begonnene Doha-Runde zur weiteren Liberalisierung des Welthandels liegt seit Jahren im Wachkoma. Für die Habenichtse dieser Welt sind das düstere Aussichten. Denn obwohl Handel und ein Mehr an Wettbewerb auch Verlierer und Souveränitätsverzicht bedeuten: Es sind gerade die Entwicklungs- und Schwellenländer, die über Zeit von einfacheren Marktzugängen profitieren, so sie ihnen denn auch gewährt würden. China ist dafür das beste Beispiel. Heute Exportweltmeister und auf dem Sprung zur globalen Wirtschaftsmacht, war das Land noch vor wenigen Jahrzehnten bitterarm und rückständig.

Öffnung statt Abschottung

Was uns wieder zurückführt zum Gotthard. Seine wirtschaftliche Bedeutung für den Nord-Süd-Transit zwischen Italien und dem Norden Europas in der frühen Neuzeit mag bisweilen überhöht worden sein. Nicht bestritten ist jedoch, dass hier im Kleinen ein immer stärker integrierter und interdependenter Wirtschaftsraum entstehen konnte, über Sprach-, Kultur- und geographische Barrieren hinweg. Geschehen ist das nicht durch Abschottung, sondern durch Öffnung. Man stelle sich einfach kurz eine Schweiz vor, in der die Schöllenen nicht durchschlagen, Zoll- und Währungsstandards nicht vereinheitlicht und der Waren-, Güter- und Dienstleistungsaustausch nicht liberalisiert worden wäre. Und spätestens jetzt merkt man: Trump und Co. irren.
Erstmals in der Sonntagszeitung vom 4. September 2016 erschienen.
2016-09-06 | Weiterlesen
Ein Garant für journalistische Glaubwürdigkeit: Die Arbeit des Presserates ist ein Teil des Qualitätsmanagements in der Schweizer Medienlandschaft. Er stellt als unabhängige medienethische Beschwerdeinstanz für Nutzerinnen und Nutzer sicher, dass Verletzungen des Journalistenkodex gerügt werden können. Im Zeitalter erodierender Glaubwürdigkeit im Journalismus ist das auch unternehmerisch sinnvoll. Wir leben in einer Zeit der medialen und kommunikativen Verwirrung. In den USA reichen inzwischen 140 Zeichen des Präsidenten, um Aktienkurse namhafter Unternehmen in die Tiefe und den Blutdruck befreundeter Regierungschefs in die Höhe zu treiben. Wahr ist, was behauptet wird – nicht, was faktisch und sachlich nachvollziehbar ist. Meinungen werden von sozialen Bots manipuliert, wir bewegen uns in Filterblasen und merken es nicht einmal mehr. Diese Gemengelage stimmt düster, aber nichts ist hoffnungslos. Denn solange Menschen vernunftbegabt bleiben, und dagegen spricht evolutionsbiologisch wenig, werden sich Ratio und gesunder Menschenverstand gegen Infantilisierung und Verarmung im digitalen Kommunikationsstrom behaupten.

Es braucht mehr, nicht weniger Journalismus

Und genau hier liegt auch die Existenzberechtigung eines wertegeleiteten Journalismus. Jenes Berufes, der in kritischer Distanz dem Verborgenen und Unklaren auf den Grund geht. Der sich um die faktische und sachlich korrekte Einordnung von Geschehnissen kümmert. Der befähigt ist und befähigt, insbesondere für das Funktionieren der Demokratie unabdingbare Meinungsbildung zu bewirken. Und der zwischen relevant und irrelevant zu unterscheiden weiss. Journalistinnen und Journalisten, ganz egal, ob festangestellt, freischaffend oder selbstständig, sind in diesen Zeiten mehr denn je gefordert, weil sie mehr denn je gebraucht werden. Was sich also vordergründig als Schwäche, ja gar als Krise erweist – der strukturbedingte «Niedergang» des traditionellen Mediensystems im digitalen Zeitalter – entpuppt sich bei genauerer Analyse womöglich als Chance für eine Wiedergeburt des Journalismus unter neuen Vorzeichen: Denn «overnewsed but underinformed» wird zur Chiffre des Dilemmas jedes aufgeklärten Medienkonsumenten. Wem eigentlich kann ich noch vertrauen? Meine Antwort lautet seit Jahren immer gleich: Jenen, die ihrem Handwerk seriös nachgehen und sich an berufsethischen Grundsätzen orientieren, ungeachtet aller ökonomischen, politischen oder sozialen Pressionen, denen sie möglicherweise bei ihrer Tätigkeit ausgesetzt sind.

Bezahlt wird für Glaubwürdigkeit

Das fasst der viel zu oft bemühte und nicht selten missbrauchte Begriff «journalistische Qualität» zusammen. Es ist das Bekenntnis eines sonst kaum zertifizierten Berufsstandes, die eigenen Prinzipien und Verhaltensweisen in aller Konsequenz hochzuhalten und zu verteidigen. Nicht einfach aus moralischer Erhabenheit, sondern weil der berufliche Kodex kardinal ist für die eigene Glaubwürdigkeit und damit für die ökonomische Fundierung jeder journalistischen Tätigkeit. Denn wenn es eine betriebswirtschaftliche Logik in diesem Geschäft gibt, dann ist es die der Glaubwürdigkeit und der Unabhängigkeit des Journalismus. Erodiert beides, erodiert im Nutzer- wie im Werbemarkt die Bereitschaft, für journalistische Leistungen zu bezahlen; ob in Form von Aufmerksamkeit, Geld, Bindung oder Empfehlung spielt keine Rolle. Und genau darum ist der Presserat so wichtig! Einst von einer Standesorganisation gegründet und heute als sozialpartnerschaftlich getragene Institution etabliert, überwacht er nicht nur die Einhaltung der ethischen und rechtlichen Prinzipien im hiesigen Journalismus, sondern er beurteilt und rügt gegebenenfalls auch deren Verletzung. Der Presserat ist der branchenweit akzeptierte Garant für die Glaubwürdigkeit journalistischer Arbeit in diesem Land – weil er unabhängig von einzelnen Akteuren im Markt agiert. Das ist weder für Kläger noch Beklagte immer angenehm. Aber es ist aussergerichtlich die einzige Form, im Streitfall unter Beachtung berufspraktischer Aspekte eine der Sache angemessene und faire Beurteilung vorzunehmen, weil sich die aus journalistischen Experten und Publikumsvertretern zusammengesetzten drei Kammern des Presserates immer auf den von der Branche selbst erlassenen Pressekodex als normatives Regelwerk abstützen können.

Unabhängigkeit und breite Akzeptanz

Seine Funktion kann der Presserat aber nur glaubwürdig wahrnehmen, wenn er ein Höchstmass an Unabhängigkeit besitzt, unbestechlich seine Arbeit tun kann und von der Branche und ihren Vertretern als Referenz wahrgenommen und getragen wird. Das bedingt einerseits die Unterstützung aller im Medienbereich tätigen Akteure, sei es bei der Akzeptanz seiner Stellungnahmen, deren Publikation in den eigenen Medien und der Bereitschaft von Führungsverantwortlichen und Medienschaffenden, Empfehlungen durch entsprechende Prozessanpassungen und Verhaltensänderungen nachhaltig Rechnung zu tragen. Es bedingt andererseits eine solide Finanzierung angesichts eines ständig wachsenden Bedarfs aussergerichtlicher Streitschlichtung und immer zahlreicherer und komplexerer Fälle. Der Presserat ist seit längerem notorisch unterfinanziert und lebt von der Substanz. Das gefährdet mittel- bis längerfristig seine Existenz, auf Kosten nicht nur der Träger, sondern auch der ganzen Branche. Auf dem Spiel steht die Glaubwürdigkeit, für guten Journalismus einzustehen – einen Journalismus, der wertschöpfend sein soll und sein muss, will er überleben. Keine Marketingaktion, kein Qualitätsmanagement, keine Ausbildung kommt auf Dauer günstiger als die weitgehend ehrenamtliche Arbeit des Presserates bei der Verteidigung und Durchsetzung der eigenen Standesregeln. Der Presserat ist kein Gericht, was ihn auszeichnet und aufwertet. Er ist eine Beurteilungsinstanz in einem Metier, in dem eben nicht alles nur nach juristischen Gesichtspunkten entschieden werden kann. Er ist der Garant für die Glaubwürdigkeit des Schweizer Journalismus.
2017-06-28 | Weiterlesen
Sag schön Danke!: Bald ist Weihnachten. Zeit, an Geschenke zu denken. Es gilt, den Nächsten Freude zu bereiten. Der uns allernächste allerdings sind wir selbst. Was Schenken etwas relativiert.  Schenken bereitet Freude – heisst es. Fragt sich nur, für wen. Bob Dylan tat sich bekanntlich etwas schwer, die seinige zu zeigen, als er als Erster seiner Zunft mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Sein langes Schweigen, ob er das Geschenk annehmen wolle, wurde ihm postwendend als unhöflich und arrogant ausgelegt. «Sag schön Danke!» bläuen wir unseren Kindern schon früh im Leben ein. Vielleicht hat der singende Lyriker diese Benimmstunde geschwänzt, oder aber er fand zunächst schlicht nicht die richtigen Worte, zu verdanken, was er vielleicht gar nicht wünschte, je zu erhalten.

Abhängigkeiten bewirtschaften

Schenken ist bestens erforscht, kulturgeschichtlich, soziologisch, psychologisch, verhaltensökonomisch. Einig scheint man sich, dass es meist weniger um das Glück dessen geht, der beschenkt wird, als vielmehr um das des Schenkenden. Denn wer schenkt, will auch sich selbst einen Gefallen tun, sei es, weil es einzahlt auf das eigene Wohlbefinden, weil es der Reputation dient, grosszügig zu erscheinen, weil es Macht demonstriert, es Abhängigkeiten bewirtschaftet, Bindung festigt oder künftiges Verhalten konditioniert. Wer je eine Hochzeitsfeier in Indien miterlebt hat, weiss um die Opulenz der Feste und die für die Brauteltern nicht selten ruinöse Ausgestaltung der Mitgift, die dem Bräutigam und dessen Familie zusteht. Es ist Ausdruck einer bis heute in ganz Südasien immer noch dominierenden Geschlechtervorstellung: Männer sind mehr wert als Frauen, ihre Vermählung – ob arrangiert oder nicht – ein «Akt der Grosszügigkeit» der Gattenfamilie. Da diese Masslosigkeit genau deswegen seit Jahrzehnten gesetzlich verboten ist, wird der üppige Segen als Geschenk deklariert. Bei den Potlatch-Festen der nordamerikanischen Indianer im 18. und 19. Jahrhundert wiederum wurden regelrechte Schenkwettbewerbe zwischen den Stämmen ausgetragen, die faktisch das materielle Ausbluten des «Gegners» zum Ziel hatten. In Kanada waren solche Orgien zeitweise ebenfalls verboten.

Das Danke besiegelt den Kontrakt

Im Grunde ist der Akt des Schenkens eine Form des informellen Vertragsschlusses: Ich gebe, du nimmst. Was im Kleingedruckten steht: Und irgendwann wiederum gibst du dann mir. «Do ut des» eben. Das «Danke» ist das Einverständnis, diesen Kontrakt über Zeit mit allen ungeschriebenen Fussnoten einzugehen. Wer weiss, vielleicht hat Dylan diese Logik blitzschnell durchschaut und den Spiess einfach umgedreht: «Das Komitee soll dankbar sein dafür, dass es mit meiner Person nobel wirken darf.» Sollten Sie diesen Text also gerade lesen, wenn Sie in der Not des Verzweifelten irgendwo im Dickicht des nie schlafenden Konsumdschungels nach Schenkbarem jagen, denken Sie an Dylan! Wollen Sie schenken, oder wollen Sie ein Dankeschön? Und wie werden Sie reagieren, wenn dieses ausbleibt, weil die Beschenkte den Kontrakt wittert, der mit dem teuren Parfum, dem Diamantencollier, dem Malediven-Trip oder etwas profaner dem guten Wein verbunden ist? Und sind Sie überhaupt sicher, dass Sie die längerfristige Verpflichtung suchen? Wenn Sie zögern, schenken Sie diese Weihnachten dem erwachsenen Gegenüber (keine Angst, liebe Kinder – ihr bekommt die Drohne, das Lego, die Xbox) vielleicht besser «nur» Zuneigung, Respekt und ein offenes Ohr. Ohne Erwartungen, quasi ergebnisoffen. Und summen Sie dazu leise «Blowin’ in the Wind».
Erstmals in der Sonntagszeitung vom 18. Dezember 2016 erschienen.
2016-12-18 | Weiterlesen
„Sohn, die Schule ruft“: Die Wahl Donald Trumps zum künftigen Präsidenten der USA wirft einige Fragen auf. Sicher ist derzeit wenig, ausser, dass sich in der Politik ein Stil durchsetzt, der einigen Bildungs- und Erziehungsidealen widerspricht. Wie erklären wir das eigentlich unserer Jugend? Wie begründen Sie es eigentlich grad Ihrer Jungmannschaft? Dass sie Zähne putzen, Ordnung halten und pünktlich sein soll? Dass sie Lehrern, Polizistinnen, Tramkontrolleuren und Eltern mit Respekt begegnen und sich anständig benehmen muss? Also nicht lümmeln, nicht lügen und nicht fluchen!

Lügen wird belohnt

Schwierig geworden mit Blick auf den Weltenlauf: Ein Rüpel wird Präsident jener Nation mit den meisten Nobelpreisträgern. Sexismus ist wieder salonfähig, Rassismus qualifiziert für die Regierungstätigkeit, und Lügen wird belohnt. «Steh auf mein Sohn, die Schule ruft...», das verliert an Überzeugungskraft in einer Welt, in der Bildung als elitär verschrien wird, das Antifaktische (wieso reden eigentlich immer alle von «post-»?) in aller Munde ist und Dumpf- und Dummheit als identifikationsstiftendes Sammelbecken für Frustrierte aller Schattierungen dient. Vor dieser Blechkapelle wollen Sie nun das hohe Lied von Verstand, Fleiss und Ehrlichkeit anstimmen? Als Jugendlicher würde ich Ihnen den Vogel zeigen.

Nicht aus Hollywood

Man könnt erzogene Kinder gebären, wenn die Eltern erzogen wären. Dichtete Goethe. Dem ist offenkundig nicht so, wenn wir unsere Erwachsenenwelt betrachten. Und täuschen wir uns nicht: Unsere Jugend merkt das! Trump und Co. sind keine Kunstfiguren, nicht überzeichnete Charaktere in einem schlechten Hollywood-Streifen. Nein, sie sind real – und sie haben Erfolg. Sie biegen Meinungen. Sie betrügen, sie bereichern sich. Und sie werden gewählt. Nicht von Kindern und der Jugend, denn diese haben noch keine Stimme. Sondern von Erwachsenen, auch von Eltern. Solche Vorbilder lehren der demokratisch noch unmündigen Generation sehr rasch, dass nicht das Faktische zählt, sich Redlichkeit nicht lohnt. Unsere Jugend erlebt derzeit auf allen Kanälen das Fertigmachen als Strategie des Politischen, die Indifferenz gegenüber jeglicher Differenzierung als Konzept für Aufstieg und Sieg. Es ist wahrlich nicht das erste Mal in der Geschichte, dass antiintellektuelles Gebaren als chic gilt. Nur ist heute der mediale Resonanzkörper unendlich gross. Für eine noch so krude Behauptung: Fans finden sich im sozialen Netz immer. Wer aber hängt Tag und Nacht am Handy?

Archetypisch elitär

Besonders perfid ist das Eliten-Bashing deswegen, weil es von jenen betrieben wird, die kraft ihrer sozialen und wirtschaftlichen Stellung fast schon archetypisch dazugehören: Trump füllt seine Administration grad mit Milliardären, Krisengewinnlern und viel Altersstarrsinn. Er hält Hof im goldenen Turm. Die Öffentlichkeit – und die Jugend – bleibt aussen vor. Richtig ist: Trump krebst derzeit von einigem zurück, was er noch vor wenigen Wochen vollmundig im Wahlkampf angekündigt hat. Aber es ist blauäugig, zu glauben, er baue nun Brücken statt Mauern. Sicher ist derzeit nur eines: Dieser Mann hat bereits sehr viele Brücken gesprengt, Mauern eingerissen und Grenzen verschoben. Pragmatismus gehört zum politischen Geschäft, nicht aber Gleichgültigkeit. Lassen wir sie zu, bringen wir den nachfolgenden Generationen einzig bei, dass man rote Linien überschreiten kann und damit durchkommt. Ob vor oder nach Wahlen, ist dabei ganz egal.
Erstmals in der Sonntagszeitung vom 27. November 2016 publiziert.
2016-11-28 | Weiterlesen
Kontrollverlust?: Die Opfer waren noch nicht beerdigt, als die Diskussionen über Gründe, Ursachen und Verantwortung für die Bluttat von Berlin schon tobten. Einmal mehr stand und steht dabei die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel im Fokus. Wenn es nur so einfach wäre. «Kontrollverlust», das war in den letzten Tagen ein häufig verwendetes Wort im Zusammenhang mit dem Terroranschlag in Berlin. Merkels Flüchtlingspolitik, so eine Argumentation, habe in Deutschland erst die Terrorgefahr geschaffen. Denn potenziell sind Flüchtlinge auch Terroristen. Das ist dermassen plump, dass es schmerzt. Nur ist es potenziell auch nicht falsch, was es diskussionswürdig macht.

"Flüchtling" ein, nicht das Täterprofil

Die Frage stellt sich, was denn alternativ passiert wäre, hätte Deutschland (und andere) im Spätsommer 2015 nicht relativ unbürokratisch die Menschenmassen aufgenommen, die sich vor den Grenzen stauten? Wären Terroristen nicht aktiv geworden? Wer solches bejaht, blendet die lange Blutspur aus, die der islamistische Terrorismus seit den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts quer durch die Welt zieht. Berlin ist nicht der erste Anschlag, der die Handschrift des IS trägt – und es wird leider auch nicht der letzte sein. Es gab Fälle, wo sich die Täter aus Flüchtlingen rekrutiert haben; es gab Fälle, da handelte es sich um Eingebürgerte mit einschlägigem Migrationshintergrund. Und es gab Fälle, da griffen Einheimische zur Waffe. Kurzum: Ein Täterprofil «Flüchtling» ist kaum zu erkennen. Einem Muster ähnlich ist inzwischen nur, dass es sich überwiegend um jüngere Männer handelt, die zuvor meist nicht aufgefallen sind und offensichtlich eine Form der Radikalisierung durchlebt haben.

Anti-liberaler Reflex

Wer also von Kontrollverlust spricht und damit Flüchtlingspolitik meint, vermischt zwei Dinge, die vielleicht eine gewisse Schnittmenge haben, aber nicht kausal sind für das Phänomen des islamistischen Terrorismus. Oder glaubt Horst Seehofer im Ernst, dass der mutmassliche Täter von Berlin bei einer Grenzkontrolle seinen Pass präsentiert hätte und dem Beamten ins Gesicht sagt «Ich plane ein Attentat auf euren Weihnachtsmarkt»? Diese Menschen handeln in der Regel nicht im Affekt; sie planen, sie sind instruiert, sie sind vorbereitet und sie führen aus. Und nicht selten hilft ihnen auch noch Schlendrian und Zufall, wie fehlende Betonpoller oder ein polnischer Sattelschlepper. Es gehört zu den anti-liberalen Reflexen menschlicher Betroffenheit, bei jedem neuen Anschlag nach «Mehr!» zu rufen. Mehr Gesetze, mehr Kontrolle, mehr Prävention, mehr Härte, mehr Ausschaffung, mehr Polizei. Damit verbunden ist leider immer ein grosses «Weniger». Zuvorderst weniger Freiheit, denn sie steht in offenen Gesellschaften immer im Konflikt mit dem legitimen Bedürfnis nach Sicherheit von uns allen. Freiheit ist nie absolut. Wäre sie es, herrschte Anarchie. Wir alle wollen nicht Opfer eines amokfahrenden Terroristen werden.

Wirksame Waffen

Die Frage aber bleibt, wo die Grenze zu ziehen ist. Wer nach absoluter Sicherheit ruft, wird angesichts der potenziellen Bedrohung nicht umhinkommen, unseren Lebensstil umfassend zu überdenken. Wollen wir das? Oder ist es nicht vielmehr so, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, aber auch Respekt, Minderheitenschutz, Mitsprache und Meinungsfreiheit immer noch die wirksamste Waffe im Kampf gegen den Terrorismus sind? Die Achtung vor den Opfern verbietet es, mit einem simplen Ja zu antworten. Nur kann «Krieg» auch keine Alternative sein. Denn wer diesen ausruft oder fordert, folgt der kruden Logik der Terroristen. Sie bomben und töten, weil sie doch genau eines provozieren wollen: den Kontrollverlust.
Erstmals publiziert in der Sonntagszeitung vom 25. Dezember 2016.
2016-12-25 | Weiterlesen
Weniger Glanz, mehr Widerspruch!: Wahlen gelten auch als Stimmungstest für Personen und deren Akzeptanz. Je höher die Zustimmung ausfällt, desto besser. Das nimmt bisweilen auch in Demokratien bizarre Züge an. Die Wiederwahl von Angela Merkel als CDU-Chefin mit "nur" 89.5 Prozent ist dafür ein gutes Beispiel. 100, 90,8, 89,5, 89, 64 und 53,8 – das sind nicht etwa die Euro-Millions-Gewinnzahlen, sondern die letzten Wahlergebnisse von Kim Jong-un, Doris Leuthard, Angela Merkel, Bashar al-Assad, Wladimir Putin und Alexander Van der Bellen. Nun finden Sie vielleicht und zu Recht, dass dies eine eigenartige Auswahl ist; vom nordkoreanischen Despoten über die Bundespräsidentin einer grundsoliden Demokratie bis zur deutschen Kanzlerin und dem endlich gewählten Präsidenten Österreichs. Finde ich auch. Die Rangliste ist zugegebenermassen willkürlich. Kraut und Rüben gemischt, ein paar faule Eier sind auch noch darunter.

Sehnsucht nach Bejahung

Aber darum geht es gar nicht. Sondern darum, wie wir Wahlresultate bewerten. Der Fächer spreizt sich von «absonderlich» (Kim Jong-un) über «strahlend» (Leuthard) zu «Denkzettel» (Merkel) und «manipuliert» (Assad/Putin) bis «uff!» (Van der Bellen). Referenz liefern jeweils die früheren Resultate – nicht so sehr der Zeitenlauf. Offenkundig existiert so etwas wie die Sehnsucht nach möglichst widerspruchsloser Anerkennung. Dabei sollte doch eigentlich das, was in Diktaturen gang und gäbe ist, in Demokratien Skepsis wecken: Bejahung der Person (und ihrer Politik) in der Nähe der Einstimmigkeit. Nimmt man jedenfalls die im Nachgang veröffentlichten Kommentare zur Wiederwahl Merkels als CDU-Parteichefin zum Richtwert, dann müsste die Bundeskanzlerin eigentlich abdanken. «Nur» 89,5 Prozent Zustimmung sei quasi eine Ohrfeige, die Quittung der eigenen Partei für die verfehlte Flüchtlingspolitik, wurde gehämt und gefrotzelt. Wir sprechen von 89,5 Prozent! Das heisst nichts anderes, dass unter allen Delegierten nur jeder 10. ein Nein eingelegt hat – selbst dann, wenn die Leerstimmen, die bei der CDU als ungültig verrechnet werden, das Resultat zugunsten der Kandidatin etwas geschönt haben. Das ist mit Verlaub absurd. Und es zeigt, wie widersprüchlich unsere Erwartungen an Verantwortungsträger in Politik und Wirtschaft inzwischen sind. Auf der einen Seite gilt als schwächlich, wer in einer Krise keine Kanten zeigt. Auf der anderen sind es solche Kanten, die in aller Konsequenz Stimmen und Rückhalt kosten. Was prompt wieder als Zeichen von Schwächung oder im Fall Merkel als «schleichender Niedergang» ausgelegt wird, symbolisiert als zwei Ziffern vor und eine Ziffer nach dem Komma. Wir wollen uns gar nicht ausmalen, was geschehen wäre, hätte die Zustimmung nur 80 Prozent betragen.

Demokratie lebt vom Wettbewerb

Ich halte die deutsche Kanzlerin für eine politische Ausnahmeerscheinung des jungen 21. Jahrhunderts. Für eine der fähigsten Führungspersönlichkeiten im krisengeschüttelten Europa. Und für die Garantin eines Mindestmasses an Berechenbarkeit und Stabilität auf dem internationalen Parkett. Aber Merkel ist nicht alternativlos. Kann sie gar nicht sein in einem demokratischen System. Daher hätte ich es nicht als Schwäche empfunden, wenn die Frau nicht mit fast 90 Prozent der Delegiertenstimmen gewählt worden wäre. Und auch nicht, wenn sie sich einer parteiinternen Auswahl gestellt hätte. Demokratie lebt immer noch vom Wettbewerb der Ideen. Es ist das Ringen um fragile Mehrheiten. Glanz braucht es dafür nicht. Sondern Mut zum Widerspruch. Und von uns allen vielleicht wieder etwas mehr Akzeptanz, diesen auch auszuhalten.
Erstmals publiziert in der Sonntagszeitung vom 11. Dezember 2016
2016-12-11 | Weiterlesen
Europa: Schluss mit Jammern!: Es gibt tausend Gründe, mit Europa zu hadern. Und sich vor der Zukunft zwischen russischer Grossmachtssucht und postfaktischer Nonchalance à la President elect Trump zu fürchten. Oder aber wir sehen es als Chance, dieses Europa neu zu denken.  Europa klagt. Über sich selbst, über ruppige Nachbarn (im Osten, neu auch im Westen), über Flüchtlinge, über Krisen und deren Nicht-Bewältigung, über Populismus und Demokratiedefizite, über Rentenkollaps und die Energiewende. Die Liste ist unvollständig, und sie wird täglich länger.

Obama der uneuropäischste Präsident

Dabei bestünde eigentlich Grund zur Freude. Denn endlich ist er da, der Weckruf, den sich in den letzten Jahren so viele so häufig herbeigewünscht haben. Dem Friedensprojekt der Gründerväter fehle eine Vision für das 21. Jahrhundert, hiess es vielstimmig, nachdem man sich im ausgehenden 20. vor allem über Erfolge der europäischen Integration gefreut hatte, ohne einsehen zu wollen, dass der Schein auch trügen kann. Die Katharsis könnte Trump bewirken, auch wenn der eben gewählte zukünftige Präsident Amerikas ausser per Twitter verbreiteter Markigkeit noch nicht durch Taten bewiesen hat, was genau er mit Europa anzufangen gedenkt. Wenig, ist die Vermutung – wobei man seinem Vorgänger genau das schon vor Jahren vorgeworfen hat. Barack Obama war bisher der wohl uneuropäischste Präsident im Weissen Haus. Die Alte Welt war dem Pazifiker fremd; sein Engagement und seine Kenntnis hielten sich in Grenzen, die Zuwendung erfolgte erst spät. Trumps Wahlkampfaussage, dass die USA nicht mehr bedingungslos für Europa die Kastanien aus dem Feuer holen würden, ist daher nicht neu. Auch Obama hat sich in der Vergangenheit schon ähnlich geäussert. In den Ohren Europas klang das jeweils fast charmant. Bei Trump wird es nun als Drohung empfunden.

Sich neu erfinden

Wir sollten es als Chance sehen. Trump liefert Europa den besten Grund, sich selbst neu zu erfinden. Eben nicht mehr nur als Friedensgemeinschaft, sondern als eine innovative, Wohlstand schaffende Organisationsform aus rechtsstaatlich verfassten Demokratien, die bei allen Differenzen eines verbindet: die Einsicht, in einer immer komplexeren und kompetitiveren Welt als Einzelstaaten kaum mehr wahrgenommen zu werden. Dazu gehört auch, sich militärisch vom Rockzipfel der USA zu emanzipieren, wenn es um die Verteidigung der eigenen Werte gegen Aggression durch Dritte geht – wie sie Russland an den Rändern Europas praktiziert. Es bedeutet hingegen nicht, die «logischen» transatlantischen Bande aufzulösen. Denn unabhängig von heutigen und künftigen Staats- und Regierungschefs beidseits des Atlantiks gründen diese in einer gemeinsamen kulturellen und historischen Erfahrung.

Europa als Kontrastprogramm

Hören wir also auf, über den schrittweisen Rückzug der USA und populistischen Isolationismus zu klagen, und konzentrieren wir uns auf das Kontrastprogramm: ein integratives und dennoch föderal strukturiertes Europa zu entwickeln, in dem das Prinzip des freien Handels und das der offenen Grenzen hochgehalten werden, weil beides einer überwiegenden Mehrheit der Bürger wie nie zuvor in der Geschichte nicht nur materielle, sondern auch physische Sicherheit in nie da gewesener Freiheit garantiert. Der Doyen der europäischen Idee, der frühere tschechische Aussenminister Karel Schwarzenberg, appellierte dieser Tage anlässlich des Mediengipfels 2016 in Lech am Arlberg: «Wir hatten in den letzten 25 Jahren eine gute Zeit. Nun wird es schwierig. Aber es lohnt sich, mit Freude für Europas Werte zu kämpfen.» Der Mann wird 80. Es mahnte ein Kind jenes Europa, das einst in Schutt und Asche lag.
Erstmals publiziert in der Sonntagszeitung vom 4. Dezember 2016.
2016-12-04 | Weiterlesen