Unter Präsident Erdogan wird die Türkei rasant in einen autoritären Polizeistaat umgebaut. Wer nicht nach der Pfeife des Palastes tanzt, ist des Terrors verdächtigt – ob Gülen oder Kurde. Betroffen sind zuvorderst kritische Journalisten. Europa ist entsetzt – und schaut dem Treiben zu.
Eben noch sassen wir bei Schnitzel und Bier an der Alster. Nun sitzt er in einem türkischen Kerker. Dazwischen liegen nur wenige Tage. Kadri Gürsel ist einer der bekanntesten Kolumnisten in der Türkei. Er schreibt für «Cumhuriyet», die letzte regierungskritische Zeitung im Land. Das reicht inzwischen, um am Bosporus von Ray-Ban-Recken in schwarzen Lederjacken festgenommen, inhaftiert und während Tagen ohne Anwalt verhört zu werden.
Schutz durch Kevlar und AK47
Der Vorwurf ist der immer gleiche: Nähe oder gar Mitgliedschaft zu terroristischen Kreisen, gemeint ist die Gülen-Bewegung. Kadri kennt das Muster. Bereits 2015 wurde er ins Visier genommen. Für die längst staatlich kujonierte Zeitung «Milliyet» hatte er über die Nähe der AKP-Regierung zum Islamischen Staat geschrieben. Und wurde prompt entlassen.
Ähnliches war zuvor Can Dündar widerfahren, der später als Chefredaktor von «Cumhuriyet» wiederum für seine kritische Berichterstattung angeklagt und zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Sein karges Büro war mit Kevlar-Vorhängen gesichert; draussen vor der Tür lümmelte ein Privatpolizist mit einer AK47 im Anschlag. Dündar konnte rechtzeitig das Land verlassen und lebt heute im Exil.
Es riecht nach Säuberung
Kadri zeigte sich in Hamburg besorgt, aber nicht eingeschüchtert. Er glaube, dass Erdogan «Cumhuriyet» nicht weiter drangsalieren werde, weil ihm das nichts brächte. Er sollte sich irren. Inzwischen sitzen weit über 100 Medienvertreter in Haft. Das riecht nach Säuberung. Nicht nach Terrorbekämpfung.
Unter Präsident Erdogan wird die Türkei im Affentempo in ein autoritäres Präsidialsystem nach russischem Vorbild umgebaut, in dem Rechtsstaatlichkeit genau so lange gilt, wie sie der Machtsicherung des Palastes dient. Dieser hat übrigens rund 1000 Zimmer, eine Fläche von 40 000 Quadratmetern und soll rund 300 Millionen Franken gekostet haben – was Erdogan für ein Land wie die Türkei als «angemessen» bezeichnet. Das höchste Verwaltungsgericht des Landes hat den Bau für illegal erklärt. Dessen prominentesten Bewohner schert das nicht.
Der Schein trügt
Die Türkei war rechtsstaatlich immer ein fragiles Konstrukt. Ein Pflänzchen der Demokratie. Aber auch Hoffnungsträger dafür, dass Islam, politische Vielfalt und Menschenrechte kein Widerspruch sein müssen. Orient und Okzident, Aufklärung und Mittelalter. Erdogan schien Garant, dass diese Gratwanderung gelingen könnte. Doch der Schein trügt. Er gelingt nicht, jedenfalls nicht ihm.
Europa zeigt sich besorgt. Zu mehr reicht es nicht. Nun rächt sich, dass man beim Syrien-Konflikt taten- und teilnahmslos zugeschaut, die Drecksarbeit anderen überlassen hat. Nun rächt sich, dass man für die Bewältigung der Flüchtlingskrise kein gemeinsames Konzept entwickelt, sondern dem nationalstaatlichen Autismus gefrönt hat und Ankara dankbar sein muss für die Unterbindung von neuen Flüchtlingstrecks. Nun rächt sich, dass Brüssel den Türken seit Jahrzehnten mit der Option eines EU-Beitritts den Mund wässrig macht, dafür aber keinen Rückhalt bei seinen Mitgliedern findet.
In kleinem Kreis meinte ein Aussenminister vor Jahren, er fürchte den Tag, an dem Russland, die Türkei und der Iran eine unheilige Allianz bilden. Es war ein Appell an die Europäer, das nicht zuzulassen. Hätte man nur besser zugehört. Kadri und viele andere wären vielleicht noch in Freiheit.
Erstmals in der Sonntagszeitung vom 6. November 2016 erschienen.