Die Waldfläche in der Schweiz hat sich in den letzten 100 Jahren stark ausgeweitet. Das steht etwas im Widerspruch zu Meldungen, der Baum sei ein Auslaufmodell. Wie immer liegt die Wahrheit auch hier nicht an den Polen.
Ich bin mit Fuchsschwanz und Husqvarna aufgewachsen. In meinen Adern fliesst Försterblut. Zugegebenermassen stark verdünnt. Die Urprägung aber wirkt. Bäume waren bei uns zu Hause wie die Kühe den Indern: heilig. Jeder Keimling wurde bestaunt, bestockt und mit Bioabfall gemästet. Als ich, dem Kindesalter längst entwachsen, diesen Sommer im elterlichen Garten das Gras mähte und dabei eine fingerdicke Birke in den Tod säbelte, nagte das schlechte Gewissen. Und nun das: Der Baum ist bedroht.
Die Fichte sagt Adieu
Das Bundesamt für Umwelt und die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft haben in einer akribischen Untersuchung die Langzeitwirkung der Klimaveränderung auf den Forstbestand untersucht und folgern: Im Mittelland wird es mehr Buchen, Eichen und Eschen geben, in den Alpinregionen weniger Mischwälder. Vor allem die Fichte, die gemeine, wird zur Rarität in gemässigten Höhen – weil es ihr schlicht zu warm wird. Sie sagt adieu und wandert einige Hundert Meter höher. Und sie macht sich rar.
Das stimmt traurig, weil die Fichte ein sehr schöner Baum ist. Einen effizienten Schutz gegen Lawinen bietet. Und als «Brot-Baum» für die hiesige Forstwirtschaft wichtig ist.
Das Waldsterben fand nie statt
Wenn es denn wirklich so kommt. Vorerst jedenfalls geschieht genau das Umgekehrte: Die Schweiz verwaldet. Und zwar ziemlich dramatisch. In den letzten 120 Jahren hat sich im Lande Tells die Waldfläche im Schnitt um gut 25 Prozent vergrössert, in den Alpinzonen sogar deutlich mehr, in gewissen Forstkreisen des Tessins teilweise weit um das Doppelte. Damit setzt die Schweiz einen Gegentrend zum weltweiten Abholzen – dies sinnigerweise 40 Jahre nach dem Alarmruf des gewesenen Bundesrats Alphons Egli im Staatswald bei Zo- fingen: «Das Waldsterben hat ein Ausmass angenommen, wie wir es bisher gar nicht realisiert haben.»
Der christlichdemokratische Innenminister mit grünem Gewissen irrte – und mit ihm viele Experten. Das heisst nun nicht, den Klimawandel kleinzureden, denn dieser ist real. Die Schweiz erwärmt sich, rund 2 Grad in den letzten 100 Jahren, und es werden gemäss Prognosen bis 2100 nochmals so viele sein, sofern Trump und Co. das in Paris beschlossene Ziel einer Begrenzung der Erderwärmung nicht ohnehin zur Makulatur machen.
Vor lauter Bäumen…
Anders aber als in den frühen Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts, als Borkenkäfer und Waldsterben auf dem Pausenplatz zum Vokabular gehörten und in grün getakteten Haushalten Weihnachten ohne Tannenbaum gefeiert wurde, wirft die jüngste Untersuchung zum Wald der Zukunft keine Wellen mehr. Vielleicht, weil der klimapolitische Alarmismus zu oft bedient worden ist. Vielleicht aber auch, weil wir Veränderungen besser akzeptieren können als auch schon. Palmöl statt Nadelholz klingt in einigen Ohren sogar reizvoll. Genauso ist es die Vorstellung, ein subtropisches Klima löse die nasskalten Winter ab.
Wir sollten alles daransetzen, dass es nicht dazu kommt. Und gleichwohl die Adaptionsfähigkeit von Flora und Fauna nicht unter- und die Deutungskompetenzen des Menschen überschätzen. Haben wir zu Alphons Eglis Zeiten vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr gesehen, wären einige Tessiner Alpbesitzer derzeit jedenfalls ganz froh, etwas weniger Wald, dafür wieder mehr Bäume zu sehen.
Erstmals in der Sonntagszeitung vom 20. November erschienen.