Wahlen gelten auch als Stimmungstest für Personen und deren Akzeptanz. Je höher die Zustimmung ausfällt, desto besser. Das nimmt bisweilen auch in Demokratien bizarre Züge an. Die Wiederwahl von Angela Merkel als CDU-Chefin mit „nur“ 89.5 Prozent ist dafür ein gutes Beispiel.
100, 90,8, 89,5, 89, 64 und 53,8 – das sind nicht etwa die Euro-Millions-Gewinnzahlen, sondern die letzten Wahlergebnisse von Kim Jong-un, Doris Leuthard, Angela Merkel, Bashar al-Assad, Wladimir Putin und Alexander Van der Bellen.
Nun finden Sie vielleicht und zu Recht, dass dies eine eigenartige Auswahl ist; vom nordkoreanischen Despoten über die Bundespräsidentin einer grundsoliden Demokratie bis zur deutschen Kanzlerin und dem endlich gewählten Präsidenten Österreichs. Finde ich auch. Die Rangliste ist zugegebenermassen willkürlich. Kraut und Rüben gemischt, ein paar faule Eier sind auch noch darunter.
Sehnsucht nach Bejahung
Aber darum geht es gar nicht. Sondern darum, wie wir Wahlresultate bewerten. Der Fächer spreizt sich von «absonderlich» (Kim Jong-un) über «strahlend» (Leuthard) zu «Denkzettel» (Merkel) und «manipuliert» (Assad/Putin) bis «uff!» (Van der Bellen). Referenz liefern jeweils die früheren Resultate – nicht so sehr der Zeitenlauf. Offenkundig existiert so etwas wie die Sehnsucht nach möglichst widerspruchsloser Anerkennung. Dabei sollte doch eigentlich das, was in Diktaturen gang und gäbe ist, in Demokratien Skepsis wecken: Bejahung der Person (und ihrer Politik) in der Nähe der Einstimmigkeit.
Nimmt man jedenfalls die im Nachgang veröffentlichten Kommentare zur Wiederwahl Merkels als CDU-Parteichefin zum Richtwert, dann müsste die Bundeskanzlerin eigentlich abdanken. «Nur» 89,5 Prozent Zustimmung sei quasi eine Ohrfeige, die Quittung der eigenen Partei für die verfehlte Flüchtlingspolitik, wurde gehämt und gefrotzelt. Wir sprechen von 89,5 Prozent! Das heisst nichts anderes, dass unter allen Delegierten nur jeder 10. ein Nein eingelegt hat – selbst dann, wenn die Leerstimmen, die bei der CDU als ungültig verrechnet werden, das Resultat zugunsten der Kandidatin etwas geschönt haben.
Das ist mit Verlaub absurd. Und es zeigt, wie widersprüchlich unsere Erwartungen an Verantwortungsträger in Politik und Wirtschaft inzwischen sind. Auf der einen Seite gilt als schwächlich, wer in einer Krise keine Kanten zeigt. Auf der anderen sind es solche Kanten, die in aller Konsequenz Stimmen und Rückhalt kosten. Was prompt wieder als Zeichen von Schwächung oder im Fall Merkel als «schleichender Niedergang» ausgelegt wird, symbolisiert als zwei Ziffern vor und eine Ziffer nach dem Komma. Wir wollen uns gar nicht ausmalen, was geschehen wäre, hätte die Zustimmung nur 80 Prozent betragen.
Demokratie lebt vom Wettbewerb
Ich halte die deutsche Kanzlerin für eine politische Ausnahmeerscheinung des jungen 21. Jahrhunderts. Für eine der fähigsten Führungspersönlichkeiten im krisengeschüttelten Europa. Und für die Garantin eines Mindestmasses an Berechenbarkeit und Stabilität auf dem internationalen Parkett. Aber Merkel ist nicht alternativlos. Kann sie gar nicht sein in einem demokratischen System.
Daher hätte ich es nicht als Schwäche empfunden, wenn die Frau nicht mit fast 90 Prozent der Delegiertenstimmen gewählt worden wäre. Und auch nicht, wenn sie sich einer parteiinternen Auswahl gestellt hätte. Demokratie lebt immer noch vom Wettbewerb der Ideen. Es ist das Ringen um fragile Mehrheiten. Glanz braucht es dafür nicht. Sondern Mut zum Widerspruch. Und von uns allen vielleicht wieder etwas mehr Akzeptanz, diesen auch auszuhalten.
Erstmals publiziert in der Sonntagszeitung vom 11. Dezember 2016