Grossbritannien liebäugelt mit dem Austritt aus der EU. Das mag beunruhigen, könnte aber – falls der Schritt effektiv vollzogen würde – auch eine Chance für das Projekt Europa sein. Und ganz generell muss es nicht schlecht sein, die Bürger angesichts der vielen innereuropäischen Differenzen auch in anderen Ländern zu befragen, ob sie eigentlich noch dabei sein wollen oder lieber nicht. Meine Gedanken dazu, erstmals veröffentlicht in der Sonntagszeitung.
Die Briten flirten. Heftig. Mit dem Dasein als Single. Die schon länger geschmähte Gattin Europa hat sich zwar redlich bemüht, den Angelsachsen noch einmal den Kopf zu verdrehen. Aber auch Zugeständnisse im Detail lassen keine Liebe erblühen, wenn im grossen Ganzen Unvereinbarkeiten bestehen.
Musketiere sind das keine – eher Einsiedlerkrebse
Europa ist eine Kopfgeburt. Und keine Herzensangelegenheit. Das gilt wahrlich nicht nur für die Briten. Sondern auch für die Griechen, die Polen, die Balten, die Tschechen und neuerdings irgendwie auch für die Sachsen. Sie finden diese Ehe zwar ganz okay, aber bitte nur in getrennten Betten. Eine Zweckgemeinschaft halt. Eine zwischen Einsiedlerkrebsen, nicht zwischen Musketieren. Oder in Umkehr zu Alexandre Dumas: Eine gegen alle, keiner für eine – vor allem, wenn diese Merkel heisst.
Eigentlich wäre das ein Fall für den Paartherapeuten; stattdessen belügt man sich in Gruppensitzungen. Oder wählt gleich den Seitensprung wie die Österreicher, die Dänen oder die Ungarn. Da sind die Briten als die Erfinder des Fair Play wenigstens ehrlich: Sie kündigen den Ehebruch an, wenn es ihnen nicht mehr passt. Einst wollte das Königreich unbedingt zum Altar geführt werden. Es waren damals die in der Liebe geschulten Franzosen unter De Gaulle, die eine Heirat bis 1973 erfolgreich zu verhindern wussten. Nun wird unter Präsident Hollande schon einmal vorsorglich gegen die Scheidung gedroht: Man werde den Eurotunnel für Flüchtlinge öffnen.
To be or not to be
Aber wäre denn eine Trennung so schlimm? Und ist es nicht gerade in diesen schwierigen Zeiten durchaus sinnvoll, die Frage nach dem «to be or not to be» zu stellen? Warum sollten nicht auch Ungarn, Österreicher oder Deutsche entscheiden dürfen, ob sie eigentlich noch an das Gemeinsame glauben? Im Rahmen demokratischer Gepflogenheiten, die immer auf dem Mehrheitsprinzip basieren?
Vielleicht würde das den Blick für das Wesentliche dieses Projektes wieder schärfen: Durch eine engere wirtschaftliche und soziale Verflechtung aller, Prosperität für jeden in Frieden und in Sicherheit zu schaffen. Wer also immer wieder nach einer identitätsstiftenden Idee Europas ruft, welche die einst verfeindeten Völker des kleinen Kontinents einen soll, et voilà: Es gibt sie, seit Anbeginn.
Weniger Luxemburg und Slowenien, mehr Bretonen und Südtiroler
Es ist ein schlüssiges Konzept, angesichts des sich gegenseitig während Jahrhunderten zugefügten Leids und der Zerstörung. Aber es hat im Zeitalter der virtuellen Realitäten offenkundig viel an Strahlkraft eingebüsst. Die Nachkriegsgenerationen können im Wort Frieden nichts Aussergewöhnliches mehr erkennen, es sei denn im Kontext terroristischer Anschläge wie in Paris oder in London. Wirtschaftlicher Erfolg und soziale Wohlfahrt werden als gegeben betrachtet. Dass dieser Kontinent auch schon in Trümmern lag, ist vergessen: Der Massstab ist das eigene und das nationale Empfinden, nicht das kollektive. Der Horizont ist entsprechend eng gesteckt.
Europa aber braucht in einer globalisierten Welt einen weiten Horizont. Als Gemeinschaft der Nörgler und Bremser hat es keine Zukunft; als Koalition der Willigen sehr wohl. Vielleicht gleicht diese dann irgendwann eher einer Multikulti-Patchwork-Familie als einer Gemeinschaft von Nationalstaaten. Weniger Grossbritannien, Luxemburg oder Slowenien, dafür mehr Schotten, Waliser, Bretonen und Südtiroler.
Utopisch? Natürlich! Aber alles schon einmal da gewesen.
Das Bild scheint mir falsch gewählt. Zudem – und auch wenn wenige Stimmen anderes behaupten – ist Polygamie ein selten guter Boden für eine beständige Partnerschaft.
Und die EU hat noch lange keine Falten. Eher ist sie, ES ein Kind, das seine ersten Schritte noch versucht. Ein Kind, ein Wunschkind, geboren eigentlich mehr aus der Sehnsucht nach Frieden. Und jetzt wird es herumgeschubst und niemand mehr will wirklich dafür aufkommen, niemand mehr weiss genau, wer was wann und warum. Vielleicht sollten sich die Eltern dessen wieder klar werden. Denn Kinder, die man sich selbst überlässt, haben die Tendenz zu verkommen und Dummheiten anzustellen. Die EU ist kein Experiment, aus dem man sich ein bisschen zurückziehen kann. Dieses Kind verdient es, dass man sich ihm widmet, vielleicht etwas weniger Geld verdient, aber zu einer guten Familie zurückfindet. Mit allen Streitereien, die dazu gehören. Aber nicht mit tödlichen Exitstrategien.