In Rio wird gesprungen, gerannt, gecrawlt, gehüpft, galoppiert, geschossen, gejubelt und geweint. Es sind Olympische Spiele, und die Währung der Stunde ist die Medaille. In deren Glanz sonnt sich jeweils auch die Nation. Sinnbild dafür ist der Medaillenspiegel, auch wenn seine Aussagekraft gegen null tendiert.
Es sind Olympische Spiele, und er ist wieder da, der Medaillenspiegel. Sinnbild nationaler Eitelkeit und zynischer Verdrängung – als gebe es plötzlich im Hier und Jetzt kein Doping mehr im Spitzensport. Alle 206 in Rio teilnehmenden Länder sind aufgeführt, auch wenn es spätestens ab Rang 50 banal wird: 0-0-0.
Oberflächlicher Patriotismus
Das Rating gewichtet Gold höher als Silber, und dieses als Bronze – alles andere zählt im Länderranking nicht. So gammelte Kanada Mitte Woche trotz doppelt so vieler Medaillen wie die Eidgenossen auf dem undankbaren 39. Rang, im Rücken von IOK-Flüchtlingsteam und Kosovo mit je einer Auszeichnung. «Wir» wiederum wandern trotz «Pistolen-Heidi», «SpartakusFabian» und den «Gold-Jungs» seit Tagen etwas irrlichternd die Leiter rauf und runter.
Die Rangliste hat den Informationsgehalt eines Einzellers und die Lebensdauer einer Fruchtfliege. Und doch führt ihn jedes News-Portal akribisch nach. Und reduziert sportliche Leistung auf oberflächlichen Patriotismus.
Dabei lautet der olympische Gedanke ja genau umgekehrt: Eben nicht die Nation soll dominieren, sondern der sportliche Wettbewerb zwischen Athleten aller Länder zur Völkerverständigung und Völkerversöhnung.
Ab ins Kohlebergwerk
Das hindert Sportnationen freilich nicht daran, kollektiv mit der eigenen Leistung zu hadern. Exemplarisch ist derzeit der vielstimmige Katzenjammer in Deutschland über das Abschneiden der Schwimmer oder der Judoka.
Es geht auch handfester: Der ehemalige nordkoreanische Judoka Lee Chang Soo berichtete nach seiner Flucht nach Südkorea, er sei als Strafe für die Finalniederlage bei den Asienspielen von 1990 gegen den südkoreanischen Klassenfeind zusammen mit anderen Athleten in ein Kohlebergwerk gesteckt worden. Autokraten lieben den Glanz von Gold, Niederlagen haben da keinen Platz.
Wladimir Putin liess sich die pathetische Inszenierung der Winterspiele in Sotschi über 50 Milliarden kosten, mehr als alle bisherigen Winterspiele zusammen. Irgendwie ist es da fast logisch, dass die Spiele im Gedächtnis haften bleiben, an denen russische Athleten staatlich organisiertes Blutdoping praktizierten.
Einer am Pranger – und alle anderen?
Es ist schon richtig: Die Währung, die wirklich zählt, ist die Medaille. Dem sportlichen Gedanken von Olympia widerspricht das nicht. Pervertiert aber wird der Grundsatz «schneller, höher, stärker», wenn der Staat diesen aus nationalem Dünkel fordert und dieses gleich auch mit unerlaubten Mitteln fördert.
Am Pranger steht dafür Russland. Unlauterer Methoden aber bedienen und bedienten sich auch andere. So irritiert, wenn angesichts dieses sehr brüchigen Glashauses der deutsche Innenminister de Maizière noch im Frühling mit Blick auf Rio seine vor Jahresfrist erhobene Forderung wiederholte, gemessen an der Potenz der ehemals zwei deutschen Sportnationen müsste mindestens ein Drittel mehr Medaillen als in London zu holen sein. Mag ja sein, dass die Blutwerte der deutschen Athleten heute alle sauber sind. Zu Zeiten der «zwei deutschen Sportnationen» waren sie es nachweislich bei vielen nicht.
So nagt bei aller Freude über gewonnene Medaillen in Rio mehr denn je die Frage, ob die Höchstleistungen nun das Resultat menschlicher oder vielmehr biochemischer Anstrengungen sind. Was dem Medaillenspiegel allerdings egal ist.
Erstmals in der Sonntagszeitung vom 14. August 2016 erschienen.