Nun also ist der längste Eisenbahntunnel der Welt eröffnet. Ein Jahrhundertwerk, eine Meisterleistung der Ingenieure. Der Tessin ist nur noch einen Katzensprung entfernt. Doch auch ennet des Gotthards lockt nicht einfach die Schönheit Mutter Natur, sondern zu oft trostlose Baumarkt-Idylle. Warum schaffen wir es nicht, auch solche Bauwerke innovativer zu gestalten?
Freude herrscht, der «Dölf-Ogi-Tunnel» ist eröffnet. Auf also ins schöne Tessin, an die Gestade der Laghi, zu Palmen, Zitrusfrüchten und Gelati.
Spätestens nach Giubiasco allerdings fragen wir uns, ob die Destination wirklich die Reise wert ist. Wir könnten auch irgendwo im Mittleren Westen Amerikas sein oder in Glattbrugg, Bern-Bethlehem oder bei Härkingen: Nicht Mutter Natur lockt das Auge, sondern Obi, Aldi, Migros und Co., dann das Möbelhaus im jüngst fertiggestellten Neubau, laut den Architekten «ein Betonkubus, welcher lediglich durch die tief zurückliegenden Öffnungen aufgebrochen wird, so als wäre ein monolithischer Körper durch einen Steinmetz bearbeitet worden». Wir lesen es, betrachten den Klotz und denken stumm: Wäre er es doch nur!
In diese Ödnis soll es Malaria geben
Es folgen McDonald’s-Drive-in, zig Tankstellen (der Sprit ist übrigens überall gleich teuer), Bürobunker und Silowohnungen aus den späten Sechzigerjahren. Dazwischen steht fast etwas verschämt ein Einfamilienhaus der Marke Prokurist, im Car-Port schlummert der cremefarbene VW Passat. Die Biodiversität, die es auch noch gäbe in der Magadino-Ebene, die lässt sich nur erahnen. So wirklich glauben kann man es fast nicht. Auch nicht, dass in diese Ödnis die Malaria zurückkehrt.
Südlich des Ceneri findet der Wettbewerb zwischen den in Beton, Glas und Stahl gekleideten Hässlichkeiten seine Fortsetzung, eingezwängt in ein enges Tal zwischen Eisen- und Autobahnen.
Im Würgegriff der Baumärkte
Diesseits des Gotthards wuchern die Flachbauten durchs ganze Mittelland. Sie nehmen die urbanen Zentren in den Würgegriff, zweckdienlich, effizient, minenergetisch. Ästhetisch überzeugend sind leider im besseren Fall nur die Produkte, die wir dort kaufen.
Dieses Land ist stolz auf den längsten Eisenbahntunnel der Welt. Die ausländischen Gäste bewundern die Ästhetik funktionaler Bauten im Alpenraum. Einige der weltweit bekanntesten Architekten haben ihren Hauptsitz in der Schweiz. Und immer wieder – wenn auch viel zu selten – werden Gebäude von herausragender Bedeutung eingeweiht, ästhetische Solitäre, die Geschichten erzählen, die polarisieren, die Kante zeigen, ohne zwingend kantig zu sein. Das KKL in Luzern zum Beispiel, die Roche Towers in Basel, die San-Battista-Kirche in Mogno, der neue Campus der EPF in Lausanne.
Schwindsüchtiger Ehrgeiz
Bei den Do-it-yourself-Bauten aber befällt jeden Ehrgeiz die Schwindsucht. Es dominieren Funktion und Kosten. Und die Farbe hellgrau. Das ist nicht zwingend nur die Schuld ambitionsarmer Bauherren, sondern auch eine Folge gutschweizerischer Gründlichkeit, raumplanerischer Auflagen und bizarrer Gestaltungsvorschriȑen. Wer sich mit Bauen profilieren will, braucht gute Nerven.
Wir leben auf engem Raum, die Ressource Boden ist in diesem Land knapp. Wer so lange Tunnel bohren kann, sollte auch fähig sein, in die Höhe zu bauen. Oder Verkaufsflächen, die kein Tageslicht benötigen, konsequenter in den Boden zu versenken. Wahrscheinlich lassen das ganz viele Vorschriften gar nicht zu. Aber die kann man ändern.
Schrauben, Betten, Rasenmäher und Fruchtjoghurts jedenfalls werden auch gekauft, wenn man dafür zehn Meter in den Untergrund fährt. Oben sitzen wir lieber unter Palmen und essen ein Gelato.
Erstmals in der Sonntagszeitung vom 5.6.2016 erschienen.