Es wird gelogen, bis sich die Balken biegen. Unwahrheiten zu verbreiten ist Trend. In der Politik, aber auch auf Youtube, Facebook und Twitter. Nicht die Wahrheit verliert, nein, die Vernunft hat einen schweren Stand.
Es heisst, Lügen hätten kurze Beine. Ich glaube das nicht. Ganz im Gegenteil: Sie sind der Carl Lewis der Sprache. Saumässig schnell. Und inzwischen scheinbar uneinholbar.
Wir alle lügen, und das recht oft
Dagegen ist die Vernunft eine Schnecke. Sie schafft es kaum mehr bis zur Ziellinie – dorthin, wo die Lüge schon längst triumphiert. Wir alle lügen. Laut Forschung offenbar sogar recht häufig; angeblich bis zu 200-mal am Tag – wobei die Männer öfter die Unwahrheit sagen als die Frauen. Es gehört zur psychologischen Selbstpflege: flunkern, beschönigen, vertuschen, schwindeln. Soll gut für das Ego sein, solange es niemand merkt. Wenn doch, dann wird das Lügen dysfunktional, würde man meinen. Weil es Vertrauen zerstört und Misstrauen nährt.
Dem ist aber nicht so. Jedenfalls nicht in der Politik. Denn gerade dort wird gerne und viel gelogen – und dies durchaus in böser Absicht und mit einigem Erfolg. Nicht erst seit dem potenziell nächsten Präsidenten der USA, Donald Trump («I am a very honest guy»). Ihm konnte man in einer einzigen Rede mehr als 70 Lügen nachweisen – bei 60 Minuten Sprechzeit. Auch der neue britische Aussenminister Boris Johnson hat es während der Brexit-Kampagne nicht so wahnsinnig genau genommen mit der Wahrheit. Nun ist die Grenze zwischen Lügen, Schummeln und Übertreiben eine fliessende.
Nicht die Wahrheit stirbt, sondern die Vernunft
Es geht freilich gar nicht darum, auf die Wahrheit zu pochen. Denn auch sie ist ein flüchtiges Gut, eine subjektive Konstruktion mit mehreren Seiten, die selten deckungsgleich sind. Nein, es geht um die Vernunft, die Schnecke, die es kaum mehr bis zur Ziellinie schafft. Was paradox ist, weil wir wie nie zuvor eigentlich die Möglichkeit hätten, uns ihrer zu bedienen. Die Deduktion des sachlich Richtigen oder faktisch Nachweisbaren zur unumstösslichen Tatsache aber gerät ausser Mode.
Wir erleben derzeit eine Art Gegenaufklärung: Nicht die Ratio zählt, sondern ihre mutwillige Negation. Nur so ist es erklärbar, dass eine Aussage, die nachweislich falsch ist, sich als neue Wahrheit durchsetzen kann. Der Kreml behauptete zum Beispiel während der Krim-Annexion standhaft, es gebe keine Beteiligung russischer Truppen, bis sich dann Präsident Putin in einem Livegespräch ohne Wimpernschlag nicht nur dazu bekannte, sondern auch den Vorwurf, Moskau habe doch bisher eine Beteiligung stets abgestritten, als «unwahr» zurückwies.
Was zunächst als Lüge gebrandmarkt wurde, aber der Wahrheit entsprach, wurde flugs als wahr deklariert, ohne dass die Lüge eingestanden worden wäre. So gesehen, wurde eine Lüge einfach durch eine nächste abgelöst.
Im weltweiten Netz entspinnen sich laufend solche Konstrukte: Einige sind gesteuert, von Trollen inszeniert, andere fussen auf der Dummheit der Beitragenden, die dritten sind das Resultat einer toxischen Mixtur aus Nicht- und Halbwissen, Gleichgültigkeit, gedanklicher Faulheit und Nachplappern von uns allen beim Weiterreichen von dem, was man so sagt, hört, sieht und liest.
Quatsch ist Kult
Es scheint kultig, nicht nur Quatsch zu erzählen, sondern diesen auch zu glauben. Man braucht sich der eigenen Inkompetenz nicht mehr zu schämen, sondern darf sie als Qualität der Authentizität stilisieren. Doch aufgepasst, das könnte auch ins Auge gehen. Denn, um Karl Jaspers zu zitieren, es ist (nur) Vernunft die sanfte Gewalt, die allem und selbst der Gewalt, Grenze und Mass setzt.
Erstmals in der Sonntagszeitung vom 7. Juli 2016 erschienen.